Die Inspiration für diesen Artikel liefert mir die Blogparade „Ich, eine lebende Bibliothek“ von Lorena Hoormann. Dieses wunderbare Konzept der lebendigen Bibliotheken, das Menschen als „lebende Bücher“ als Gesprächspartner*innen zusammenbringt, will damit Vorurteile abbauen und echte Begegnungen ermöglichen.

Während ich gerade mit dem Mac auf meiner Terrasse sitze, kann ich mich nicht entscheiden, ob ich in einer menschlichen Bibliothek lieber Zuhörerin oder Erzählerin bin. Der „Neue“ in meiner Kaffeetasse stammt aus einer kleinen Mecklenburger Rösterei und ich habe noch einmal das Bild der beiden Inhaber vor Augen. Wie sprühend sie von ihrer Arbeit berichten, von ihrem Mut, die alte Ziegelei umzubauen, von ihren Reisen, um den besten Kaffee zu finden, von Erfolgen und Misserfolgen bei der Suche nach dem besten Geschmack. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.

Manche Tage fühle ich mich wie eine Bibliothekarin, die ständig neue Bücher findet – und deren Regal zum Glück niemals zu klein wird. Zum Glück, denn ich liebe es auch, selbst neue Geschichten zu schreiben und neue Kapitel an alte Geschichten anzuhängen. Ich bin eine lebendige Bibliothek. Und während ich diese Zeilen schreibe, wird mir bewusst: Du bist es auch.

Die Bücher in uns entdecken

Jeder Mensch trägt unzählige „Bücher“ in sich. Da ist das Buch der Kindheit mit seinen hellen und dunklen Kapiteln. Das Buch der ersten Liebe, das vom eigenen Platz suchen und finden in der Welt. Und das der Verluste und Abschiede. Und das der späten Lieben. Irgendwann wagen sie sich hervor, die Bücher, die wir geerbt haben – die Geschichten unserer Mütter und Großmütter, die uns oft ungelesen weitergegeben wurden.

Als Mentorin für biografisches Schreiben begleite ich Frauen, die ihre innere Bibliothek erforschen. Gemeinsam katalogisieren wir, was da ist: Welche Bücher stehen ganz vorne im Regal, welche sind verstaubt in dunklen Ecken versteckt? Welche Perspektive stimmt da noch nicht? Welche Geschichten warten darauf, endlich erzählt zu werden?

Und auch in meiner eigenen Bibliothek gibt es solche Bücher, die ich vergessen hatte. Bücher, von denen ich gar nicht mehr wusste, dass sie existieren. Heute frage ich mich und forsche: „Was hat Opa eigentlich im Krieg gemacht?“ Auch wenn ich es vermutlich nicht mehr – oder zumindest nicht mehr im Detail herausfinden werde, wird es eines Tages das Buch meiner Suche danach geben.

Von der stillen Archivarin zur Autorin weiblicher Texte

Viele von uns Frauen haben ihre Geschichten wie verschämte Groschenbüchlein weggesperrt. Wir sind zu Archivarinnen unseres eigenen Lebens geworden – still, hübsch bescheiden und immer darauf bedacht, nicht zu stören. Wen, denken wir, interessieren sie schon, die Geschichten vom Waschen der Windeln, vom Verpflastern wunder Knie, vom Backen unzähliger Kuchen für alljährliche Kuchenbasare. Geschichten vom sanften Beruhigen der demenzkranken Schwiegermutter. Vom Putzen der Badezimmer. Vom Bügeln der Hemden. Von Familien, die wir zusammengehalten und Träumen, die wir genährt haben. Geschichten von Verzicht und Hingabe, von kleinen Wundern im Alltag, von der Kraft, die im Miteinander liegt.

Ich schreibe mit Frauen über das, worüber sonst geschwiegen wird: Ungewollte Kinderlosigkeit. Ambivalente Mutterschaft. Scham. Schuld. Sehnsucht. Manche Bücher brauchen Mut und Zeit, um geschrieben zu werden. Aber wenn sie einmal offen sind, atmen sie auf. Und mit ihnen die Frauen, die sie tragen.

Das Leise und das scheinbar Unsagbare. Auch diese Texte verdienen es, gehört und geehrt zu werden. Eine lebendige Bibliothek lässt sich nicht einsperren. Sie pulsiert, sie atmet, sie wächst.

Durch das biografische Schreiben werden wir zu Autorinnen unserer eigenen Geschichten. Ja, du darfst entscheiden: Welche Kapitel möchtest du jetzt endlich aufschreiben? Welche alten Geschichten tragen noch Wahrheit in sich, welche dürfen mit Freundlichkeit und Anmut losgelassen werden?

Und ich erinnere mich. Als ich vor vielen Jahren das erste Mal Teile meiner Familiengeschichte in einer Gruppe aufschrieb, flossen viele Tränen. Ich weiß nicht, ob es die ungewohnten monotonen Schreibbewegungen der Hand waren, die Ruhe zwischen den Klostermauern oder die kreativen Methoden, die die Kursleiterin anregte. Da kamen unverhofft schmerzhafte Episoden wieder an die Oberfläche, die ich tief in mir verschlossen hatte. Und gleichzeitig war es so heilsam, mich den anderen Teilnehmer*innen in meiner Verletzlichkeit zeigen zu können.

Auch das ist ein Grund dafür, warum ich die Gruppenarbeit so sehr liebe: Wir können uns gegenseitig mit unseren Geschichten beschenken – und wir können uns Hüfte an Hüfte beistehen, wenn eine von uns die schmerzlichen Kapitel ihres Lebens öffnet. Das Schreiben wird zu einem Akt der Selbstfürsorge und der Versöhnung.

Manchmal sitze ich nach einem intensiven Coaching-Gespräch noch eine Weile da und spüre nach, wie stark wir Frauen über ähnliche Themen auf hundert verschiedene Weisen miteinander verbunden sind.

Biografisches Schreiben

Die Bibliothekarin der Familienseele

Tief in uns leben die Geschichten unserer Vorfahren. Mit jedem Genogramm, das du bis zur Generation deiner Urgroßeltern erstellst, blätterst du in 14 Büchern (plus deinem eigenen). Würdest du sogar sieben Generationen betrachten, sind es schon 254 direkte Vorfahren. Im Allgemeinen wird eine Generation mit etwa 25 bis 30 Jahren definiert, eigentlich gar keine so lange Zeit. Und einerseits war alles so anders – und andererseits hat sich manches so gar nicht geändert.

Mit deinem Genogramm öffnest du neue Räume in deiner Familienbibliothek. Da sind die Bücher der Kriegsgeneration, oft stumm vor Schmerz. Die Bücher der Aufbaugeneration, voller Pflichtgefühl und verdrängter Träume. Und da sind deine eigenen Bücher – voller Möglichkeiten, voller ungelebter Potentiale.

Eher zufällig geriet ich in einen Vortrag des Journalisten Matthias Lohre (Das Erbe der Kriegsenkel). Ein Ergebnis seiner Suche nach den Lebensgeschichten seiner Großeltern ist, dass wir, wenn wir über unsere Ahnen nachdenken, nie die ganze Wahrheit wissen werden. Und das ist auch in Ordnung.

Wenn ich mich als Bibliothekarin der Familienseele sehe, dann bin ich eine, die nicht nur Fakten sammelt, sondern auch die emotionalen Wahrheiten, die zwischen den Zeilen stehen, hütet. Ich ehre das Schweigen ebenso wie die Worte. Und manchmal ist es gerade das Unausgesprochene, das mir den Schlüssel zu einem besseren Verständnis schenkt.

In der Rolle als Hüterin deiner Familiengeschichten liegt eine tiefe Verantwortung: Du entscheidest, welche Muster du weitergibst und welche mit dir enden dürfen. Du bist nicht nur Sammlerin der Vergangenheit, sondern auch Weberin neuer Geschichten für die kommenden Generationen.

Onlinekurs Genogramm

Wenn Worte zu Heimat werden

In meiner Arbeit empfinde ich es als ein kleines Wunder: Frauen, die durch das Schreiben zu sich selbst zurückfinden. Die endlich ihre eigene Stimme hören, nachdem sie jahrelang nur die Stimmen anderer gehört haben.

Das biografische Schreiben wird zur Heimkehr in die eigene Seele. Jedes geschriebene Wort, jede erinnerte Geschichte, jede neue Erkenntnis bringt uns näher zu dem, wer wir wirklich sind.

Und manchmal braucht es gar nicht viel: ein Satz aus der Kindheit, ein Geruch, der plötzlich auftaucht beim Schreiben, ein Gefühl, das lange keinen Namen hatte. In solchen Momenten öffnet sich ein innerer Raum – warm, weit und wahr.

Ich nenne ihn den Raum der Erlaubnis. Hier darf alles sein: das Unfertige, das Widersprüchliche, das Verletzte. Hier braucht sich niemand zu rechtfertigen. Hier dürfen Frauen sich erinnern, ohne sich erklären zu müssen.

Viele meiner Klientinnen sagen: „Ich wusste gar nicht, dass ich das noch in mir trage.“ Oder: „Endlich kann ich dieser alten Geschichte einen Platz geben – und mir selbst vergeben.“

Es ist, als würden Worte eine Brücke bauen.

Vom Damals ins Heute.

Vom Außen ins Innen.

Von der Anpassung zur Echtheit.

Schreiben wird zur Landkarte.

Nicht um sich zu verlieren – sondern um sich endlich zu finden.

Und manchmal – ganz leise – passiert etwas Heiliges: Eine Frau liest, was sie selbst geschrieben hat. Und da ist es.

Ein kleines Flüstern. Ein Aufatmen. Ein Satz, der bleibt.

Ein Zuhause in sich selbst.

Die lebendige Bibliothek teilen

Als Initiatorin kleiner Projekte mag ich es, Anstupserin zu sein. Ich spüre, dass es mir nicht nur darum geht, meine eigene Bibliothek zu hegen und zu pflegen. Ich bin hier, um andere Frauen dabei zu begleiten, Kuratorinnen ihrer eigenen Lebensgeschichte zu werden.

Jede Frau, die ich begleite, erweitert meine eigene Bibliothek. Ihre Geschichten werden zu Büchern in meinem Herzen – nicht um sie zu besitzen, sondern um sie wertzuschätzen und andere Frauen zu inspirieren, ihre eigenen Geschichten zu entdecken.

Education teaches a system so they can help themselves – diese Vision lebt in jeder Schreibsession, in jedem Genogramm, in jedem Moment der Erkenntnis.

Du bist eine lebendige Bibliothek

Liebe Leserin, auch du trägst eine ganze Bibliothek in dir. Bücher voller Weisheit, Schmerz, Liebe und ungelebter Träume. Bücher, die darauf warten, geöffnet zu werden. Lebensgeschichten, die geschrieben, gelesen und gewürdigt werden dürfen.

Du bist nicht nur Archivarin deiner Geschichte – du bist ihre Autorin. Du darfst entscheiden, welche neuen Kapitel du schreiben möchtest. Du darfst alte Geschichten mit Freundlichkeit betrachten und neue mit Mut beginnen.

Freundlichkeit ist meine Haltung tiefer Ehrfurcht und Dankbarkeit für das Leben – auch für die schweren Kapitel, die uns zu dem gemacht haben, wer wir heute sind.

Deine lebendige Bibliothek wartet darauf, entdeckt zu werden. Was wird das erste Buch sein, das du öffnest?

Wenn du Lust bekommen hast, deine eigene lebendige Bibliothek zu erforschen, begleite ich dich gerne dabei. Durch biografisches Schreiben, Genogramm-Arbeit und mit viel Freundlichkeit und Geduld finden wir gemeinsam die Geschichten, die in dir leben und erzählt werden möchten.

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