Welche Erinnerungen an die Kindheit hast du? Ich dachte lange Zeit, meine Kindheit sei einfach ganz normal gewesen. Eine Kindheit in der DDR halt. So wie bei uns, war es doch in allen anderen Familien auch. Und gleichzeitig lebte in mir der Verdacht, dass bei uns bestimmte Dinge passierten, weil wir eben nicht normal waren. Dinge, die ich über 30 Jahre geheim gehalten habe. Auch vor mir selbst. Später dazu mehr.
Wenn mich also ein Ratgeber zum biografischen Schreiben auffordert, meine Kindheit als eine wundervolle Zeit voller prägender Momente und Erlebnisse zu sehen und diese kostbaren Erinnerungen festzuhalten, dann kann ich da schon brav etwas aufschreiben. Aber das wäre nur die halbe Wahrheit.
Gerade für uns Frauen der Kriegsenkel-Generation ist das Erinnern und das Aufschreiben von Kindheitserlebnissen eine schon fast therapeutische Übung, die einen tiefen Einblick in unsere Vergangenheit und in unser So-Geworden-Sein ermöglicht. Es ist Privileg unserer Generation, endlich hinzusehen und den Struggle, der sich von Generation zu Generation zieht, auflösen zu können. Und zugleich ist es unsere Aufgabe.
Meine Vision ist es, Erinnerungen an die Kindheit nachträglich in Worte zu fassen. Mit erwachsenem Blick das, was sich dabei finden lässt, anzusehen und dann wertzuschätzen oder loszulassen. So hilft Dir dieser Prozess dabei, die emotionalen und mentalen Auswirkungen der eigenen Kindheit und dem Kindsein zu jener Zeit zu verarbeiten. Schreibend wirst du dir Türen öffnen zu den Wurzeln Deiner Identität und Deiner Werte. Schreibend kannst Du wiederentdecken, was Dich strahlen lässt.
Warum ist die Kindheit so bedeutsam für das Leben eines Menschen?
In den ersten Lebensjahren eines Kindes findet eine rasante Entwicklung auf verschiedenen Ebenen statt, darunter die körperliche, kognitive, emotionale, soziale und sprachliche Entwicklung. Kleinkinder nehmen sehr viel mehr wahr, als Menschen früher glaubten oder vielleicht heute noch denken. Die frühesten Erlebnisse haben die größten Auswirkungen.
Die Prägung von Glaubenssätzen, Haltungen und Werten
Die Entwicklung von Glaubenssätzen beginnt bereits in den frühen Jahren eines Kindes und wird stark von den Erfahrungen in der Familie und im sozialen Umfeld geprägt. Vor allem die Beziehung zu den Eltern spielt eine entscheidende Rolle. Kinder betrachten ihre Eltern als absolute Autoritäten und übernehmen ihre Meinungen und Verhaltensweisen.
Wiederholte Erlebnisse und Rückmeldungen prägen die Überzeugung eines Kindes darüber, wer es ist, was es wert ist und wie die Welt funktioniert. Ohne dass du dir dessen immer bewusst bist, beeinflussen diese Glaubenssätze auch heute noch dein Verhalten, deine Entscheidungen und deine Beziehungen.
Kindheit ist die Zeit, in der tiefes Vertrauen ins Leben entsteht – oder auch nicht. Einstein sagte: „Unsere wichtigste Entscheidung ist, ob wir das Universum für einen freundlichen oder feindlichen Ort halten.“
Positive Erfahrungen können ein gesundes Selbstwertgefühl und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten fördern, während negative Erfahrungen zu Selbstzweifeln und Unsicherheiten führen können. Die Biografiearbeit erlaubt es dir, die Muster und Themen in deinem Leben zu erkennen, die sich aus diesen frühen Erfahrungen ergeben haben.
Entwicklung von Bewältigungsstrategien und Bindungsverhalten
Auch das Selbstsorgeverhalten, also die Fähigkeit, sich um die eigenen Bedürfnisse zu kümmern, beginnt in den ersten Lebensjahren. Dafür brauchen Kinder vor allem eine sichere Bindung zu ihren Bezugspersonen, also in der Regel zu Mutter und Vater.
Vielleicht hast Du schon einmal vom Still-Face-Experiment des amerikanischen Entwicklungspsychologe Edward Troncik gehört?
Babys brauchen ein empathisches Gegenüber. Wenn die Mutter oder eine andere Bezugsperson dem Kind zugewandt ist, und seine Bewegungen und Mimik spiegelt, nimmt sich das Kind selbst als wertvoll und geliebt wahr.
Im Experiment wird die Mutter aufgefordert, sich an einem bestimmten Punkt der Interaktion kurz wegzudrehen, um das Baby dann mit eingefrorener Miene anzusehen. Zunächst ist das Kind nur irritiert, dann eifrig bemüht, den Kontakt zur Mutter wieder herzustellen, bis es nach kurzer Zeit aufgibt und weint.
Wir denken häufig, dass Stress nur zwei verschiedene Reaktionen im Körper auslösen kann: Kampf oder Flucht. Doch beides ist dem Baby – und selbst etwas älteren Kindern, die immer noch von ihren Eltern abhängig sind – nicht möglich. Stattdessen dissoziieren diese Kinder. Darunter versteht man einen inneren Rückzug, eine Abspaltung von den eigenen Bedürfnissen, Gefühlen, Wahrnehmungen, Gedanken und Erinnerungen. Dadurch kann das Kind für den Moment die qualvolle Situation gut überstehen.
Solche kleinen Situationen wie im Video hat vermutlich jeder Mensch erleben müssen. Eine Mutter, die gerade eine schwierige Situation bewältigen muss oder eine traurige Nachricht erhalten hat, hat oft gar nicht die Kraft, gleichzeitig freundlich und spielerisch mit dem Kind zu agieren. Die entscheidende Frage lautet, wie schwerwiegend, wie oft und wie lange andauernd war das Kind diesem Stress ausgesetzt und wie wurde es anschließend wieder aufgefangen.
Bis in die 70er oder frühen 80er Jahre war es üblich, Babys nur zu festen Zeiten zu stillen oder zu füttern. Dazwischen solle man es ruhig schreien lassen. Das stärke die Lunge. Trösten, also das, was das Kind vielleicht gebraucht hätte, würde nur zu einer Verzärtelung beitragen. Doch aus dem Jungen oder dem Mädel sollte ja mal etwas werden. Gut gemeinte Vernachlässigung!
Jedes Kind lernt auf seine Weise mit Herausforderungen und Stress umzugehen. Und diese Bewältigungsstrategien prägen sein späteres Verhalten in stressigen Situationen. Wer in der Kindheit gelernt hat, konstruktive Bewältigungsmechanismen wie soziale Unterstützung zu nutzen, ist heute besser in der Lage, mit Stress umzugehen, als jemand, der ungünstige Bewältigungsstrategien wie Rückzug oder Vermeidung entwickelt hat.
Wer als Kind häufig aufgrund von Ablehnung oder Vernachlässigung dissozieren musste, wundert sich heute vielleicht über seine Aufschieberitis, sein Harmoniebedürfnis und die Unfähigkeit, Nein zu sagen.
Die frühen Erfahrungen mit den eigenen Eltern haben auch Auswirkungen auf das Bindungsverhalten im späteren Leben. Hast du in der Kindheit sichere Bindungen erlebt, wirst du eher gesunde Beziehungen zu anderen Menschen entwickeln. Dann ist es leichter, Nähe und Intimität zuzulassen. Erfahrungen von Ablehnung, Vernachlässigung, körperlicher oder seelischer Gewalt oder sexuellem Missbrauch führen dagegen häufig zu Problemen in der Partnerschaftsfähigkeit und beeinträchtigen das Vertrauen in andere Menschen.
Was das Schreiben über Kindheitserinnerungen bringt
Mit der Zeit verblassen Erinnerungen an die Kindheit und Details können verloren gehen. Nicht selten entstehen im Rückblick auch Täuschung. Ich habe einen ganzen Artikel über das Phänomen der falschen Erinnerungen geschrieben.
Durch biografisches Schreiben verbindest Du Dich wieder mit jener Zeit. Dir gelingt der Zugang zu immer mehr Details und Erlebnissen. Nach und nach fügen sich einzelne Puzzleteile zu einem komplexen Bild.
Lange Zeit herrschte die Vorstellung, Kinder bekämen eh nicht so viel mit. Und Erinnerungen an Ereignisse vor dem fünften Lebensjahr würden früher oder später gelöscht. Heute gehen Wissenschaftlerinnen, wie Prof. Carole Peterson von der Memorial University of Newfoundland, davon aus, dass Rückerinnerungen bis zum Alter von dreieinhalb Jahren zugänglich sind und diese Altersgrenze durch begleitendes biografisches Arbeiten noch einmal um ein Jahr nach vorn verschoben werden kann.
Beim Schreiben setzt du dich automatisch intensiv mit deiner Vergangenheit auseinander. Es geht um mehr als „mein schönstes Ferienerlebnis“. Je tiefer du eintauchst, um so mehr Erkenntnisse gewinnst du über dich selbst und um so besser kannst du deine persönliche Entwicklung nachvollziehen. Das Schreiben ist heilsam und hilft dir, ungelöste Emotionen und Traumata zu verarbeiten. Es ermöglicht, vergangene Erlebnisse vom heutigen Standpunkt aus zu reflektieren und neue Perspektiven zu gewinnen.
Hinweis: Wenn Du an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidest oder sexuellem Missbrauch in der Kindheit erleben musstest, dann solltest Du Dich in diesem Prozess unbedingt von einer professionellen Therapeutin oder einem Therapeuten begleiten lassen.
Erinnerungen organisieren und strukturieren
Wie fängt man also am besten an? Das Aufschreiben von Kindheitserinnerungen ist eine überwältigende Aufgabe, insbesondere, wenn du viele verschiedene Erlebnisse und Ereignisse in deiner Schatzkiste der Erinnerungen hast. Nachdem du die ersten Geschichten und Anekdoten aufgeschrieben hast, ist es hilfreich, deine Erinnerungen zu organisieren und zu strukturieren.
Eine Möglichkeit besteht darin, sie nach bestimmten Kategorien oder Themen zu ordnen. Du erstellst zum Beispiel Kapitel über
- deine Familie,
- deine Schulzeit,
- deine Freunde
- und über besondere Ereignisse.
Durch diese Strukturierung kannst du sicherstellen, dass du alle wichtigen Aspekte deiner Kindheit abdeckst und nichts vergisst.
Oder – wenn ihr oft umgezogen seid – ordnest du nach Orten, an denen du gelebt hast.
Vielleicht arbeitest Du lieber mir einer Zeitleiste, um die chronologische Reihenfolge deiner Erinnerungen festzuhalten. Damit behältst du einen klaren Überblick über deine Kindheit und setzt die einzelnen Ereignisse in den richtigen Kontext. In meinen Kursen nutzen wir ganz verschiedene Arten der Visualisierung, um ein Gerüst für die entstehenden Geschichten zu finden. Demnächst gibt es an dieser Stelle ein Freebie dazu. Melde Dich doch jetzt schon für meinen Newsletter an, dann verpasst Du es nicht.
Das Festhalten von Erinnerungen in einer geordneten Struktur ermöglicht es dir nicht nur, deine Gedanken zu sortieren, sondern macht es auch einfacher, später auf bestimmte Ereignisse zurückzugreifen und neu erinnerte Geschichten einzuflechten.
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Details und sinnliche Erfahrungen hinzufügen
Um wichtige Einzelheiten und sinnliche Erfahrungen deines Lebens festzuhalten, die sonst leicht verblassen, brauchst Du mehr als Schlagworte und Stichpunkte. Wenn du dich beim biografischen Schreiben intensiver erinnerst, kommen dir Bilder, Gerüche und Geräusche in den Sinn. Indem du diese Details in Geschichten einwebst, hältst du diese Erinnerungen lebendig und entdeckst immer neue Details.
Du erinnerst dich zum Beispiel an einen warmen Sommertag mit deinen Freundinnen am See. Anstatt nur zu schreiben: „Ich habe mit meinen Freundinnen am See gespielt“, beschreibst du die Szene detaillierter. Du spürst förmlich das kühle Wasser, das sanft deine Füße umspült, hörst das Kichern deiner Freundinnen und siehst wieder ihre Sommersprossen. Der Geruch von Fisch liegt in der Luft liegt und das Gefühl der Sonne auf deiner Haut erinnert dich daran, dass die Zeit damals endlos erschien.
Durch das Hinzufügen dieser Details tauchst du nicht nur erneut in diese Erinnerung ein, sondern öffnest dir selbst die Tür zu weiteren Erinnerungen. Vielleicht hast du unvermittelt das Bild vor Augen, wie du mit deinen Großeltern zum ersten Mal an diesem See gewesen bist und ihr gemeinsam die mitgebrachten Stullen, deren Butter schon fast geschmolzen war, gegessen habt. So kann eine Erinnerung zur nächsten führen.
Indem du dich auf die sinnlichen Erfahrungen konzentrierst, verbindest du dich tiefer mit deiner Vergangenheit und verstehst sie besser. Du öffnest dein Herz und schaffst eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dein Unterbewusstsein erinnert sich zurück. Und gleichzeitig, weil das Unbewusste keine zeitlichen Grenzen zieht und alle Gefühle und Empfindungen ins Jetzt transportiert, werden deine Erinnerungen zu einer zusätzlichen Kraftquelle. Die Gedanken an die liebevollen Großeltern geben dir auch heute noch das Gefühl, genau richtig zu sein.
Erinnerungen an die Kindheit mit anderen teilen
In den Biografie-Kursen teilen wir Erinnerungen miteinander. Moskauer Eis und diese kleinen Plastiklöffel auf denen Namen standen. Meistens Steffen oder Petra. Ehemalige DDR-Kinder wissen jetzt, wovon ich schreibe. In den alten Bundesländern standen an dieser Stelle vielleicht die Kaugummibilder mit Donald Duck und Fix und Foxi, die im Ost ebenfalls heiß begehrt waren.
Der erste Schultag lief scheinbar überall ähnlich ab. Mit dem neuen Ranzen, Zuckertütenbaum und Kinderchor. Im Newsletter schrieb ich neulich in der Kurzgeschichte darüber, wie meine Zuckertüte am Einschulungsfest von den Lehrern versteckt wurde und ich als einziges Kind erst einmal ohne das begehrte Symbol der Zugehörigkeit dastand. Interessanterweise schrieb mir daraufhin eine Pfarrersfrau, dass ihr genau das Gleiche passiert sei. Biografisches Schreiben verbindet.
Und ab wann durften Mädchen Hosen tragen? Ich war dank meiner Schneider-Oma eine der ersten in unserer Schule und musste mich so manches Mal fragen lassen, ob ich jetzt ein Junge sei.
Indem wir Geschichten und Erlebnisse des eigenen Lebens teilen, berühren wir unsere Mitmenschen und ermöglichen ihnen, an unseren Erfahrungen teilzuhaben.
Erinnerungen in der Familie zu teilen, schafft eine ganz besondere Verbindung. Familiengeschichten werden so bewahrt. Doch darüber hinaus trägt das Erzählen und Aufschreiben dazu bei, sich gegenseitig besser zu verstehen. Spannend ist es immer, wenn Geschwister gemeinsam erzählen. Hört man ihnen zu, kann man schnell glauben, sie seien in ganz verschiedenen Familien aufgewachsen.
Mein schwerhöriger, an Demenz erkrankter Großvater – er war 75 Jahre alt, als ich geboren wurde und fast 80 als mein Bruder auf die Welt kam – ist in meinen Erinnerungen eigensinnig, stur und lebte in seiner Vergangenheit als Kammerdiener am Hofe des Grafen Esterhazy. Fragst du meinen Bruder, erzählt er von einem mutigen, unerschrockenen Menschen mit originellen Einfällen. Da liegt die Wahrheit wohl irgendwo in der Mitte und wir können durch das Erzählen beide unser Bild vom Großvater erweitern.
Nicht zu unterschätzen ist der kulturelle Aspekt beim Teilen von Erinnerungen. Zeitzeugenprojekte ermöglichen eine gesellschaftliche Auseinandersetzung. Nur was erzählt wurde, wird verstehbar. Nicht nur für die eigene Generation, sondern auch für später Geborene.
Viele Menschen kennen nur wenige Geschichten vom Aufwachsen der Eltern oder Großeltern. Zu Hause wurden oft immer die gleichen, wenigen Stories erzählt. Bei uns zum Beispiel legte man Wert auf Pointen. Tragische Dinge wurden eher unter den Tisch gekehrt. Dass beispielsweise zwei Geschwister meiner Großmutter im Hungerwinter 1917 an Entkräftung und Diphterie starben, habe ich erst durch meine Familienforschung herausgefunden. Auch, dass es vielen anderen ähnlich ging und dass die Kindersterblichkeit im ersten Weltkrieg in Deutschland aufgrund des Mangels um 50 Prozent stieg.
Die Generation der Kriegskinder, geboren zwischen 1930 und 1946, wuchs mit Eltern auf, die ebenfalls Kriegskinder waren. Fast jedes Kind erlebte Kriegsereignisse, die traumatisieren konnten – von Bombenangriffen über Flucht und Vertreibung bis hin zur Rückkehr von verrohten Vätern aus der Kriegsgefangenschaft. Darüber wurde oft geschwiegen. Es musste ja weitergehen.
Das gemeinsame Erzählen von biografischen Geschichten ist eine Möglichkeit sich zu solidarisieren. Mit anderen Frauen. Mit den Frauen deiner Geschichte, den Müttern und Großmüttern. Und mit deinen Töchtern.
Es ermöglicht, die eigene Geschichte und das eigene So-Geworden-Sein zu begreifen. Und diese Texte helfen, gesellschaftliche Werte im jeweiligen historischen Kontext besser zu verstehen. Begleitete Biografiearbeit bringt Frauen zurück im ihre Kraft und hilft, sich dadurch mit seiner Vergangenheit zu versöhnen.
"Jemand, den ich liebte, gab mir einmal eine Schachtel voller Dunkelheit. Ich brauchte Jahre, um zu verstehen, dass auch dies ein Geschenk war."
Mary Oliver
Die amerikanische Lyrikerin war eine der prominentesten und populärsten Naturdichterinnen. Der Übersetzer Jürgen Brôcan erklärt „Einmal wissen wir, dass sie eine sehr unglückliche Jugend hatte und oft die Schule geschwänzt hat, und stattdessen in die Natur geflohen ist, um dort Trost zu finden.“
Versöhnungsarbeit für Dich selbst
Wie kann die Beschäftigung mit der eigenen Biografie also dazu beitragen, sich mit der Vergangenheit zu versöhnen, wenn die Erinnerung an deine Kindheit mit Schmerz verbunden ist?
Der erste Schritt auf diesem Weg ist die ehrliche Auseinandersetzung mit den erlebten schlimmen Erfahrungen. Ich selbst war beispielsweise lange Zeit nicht bereit, mich selbst als Kriegsenkelin zu sehen. Mein Gott! Der Krieg war 18 Jahre vorbei, als ich geboren wurde! Ich hielt diese ganzen Kriegsenkelgeschichten für eine Mode. Da wollte sich jemand etwas zuschreiben.
Das Buch, das mich einige Jahre später aufgeweckt hat, hatte einen ganz anderen Fokus. Es hieß Die geprügelte Generation – Kochlöffel, Rohrstock und die Folgen, geschrieben von Ursula Müller-Münch. Bei uns zu Hause waren es Kleiderbügel. Manchmal konnte ich tagelang nicht richtig sitzen. Wem hätte ich davon erzählen können? Stattdessen habe ich mich still geschämt. Meine Mutter war eine angesehene, sehr beliebte Lehrerin in unserem Dorf. Nach außen hin lustig und verständnisvoll. Doch kaum war sie zu Hause, lag sie mit Kopfschmerzen im Bett. Ich war ständig auf der Hut, sie nicht zu stören oder ihren Unmut auf mich zu ziehen.
Erst heute, durch die Beschäftigung mit ihrer Biografie erkenne ich die Depression und ihr Trauma. Kurz bevor die Demenz ihre Erinnerungen auslöschte, kamen die Geschichten ihrer Kindheit an die Oberfläche. Jetzt klangen sie nicht mehr lustig, sondern nach Gefahr, Verletzung und Übergriffigkeit.
Wenn du für dich selbst Versöhnungsarbeit leisten willst, dann braucht es Zeit, auftauchende Emotionen anzuerkennen und zu verarbeiten. Für mich war es wichtig, traurig, wütend und verletzt zu sein. Endlich, endlich habe ich mir auch erlaubt wütend zu sein. Ich habe meine Wut regelrecht herausgeschrieben. Damit begann Heilung.
Erfahrungen prägen einen Menschen, aber sie sollten nicht sein gesamtes Leben definieren dürfen. Jede Herausforderung, der du dich stellen musstest, verlieh dir mehr Stärke und Widerstandskraft. Du kannst diese Erkenntnisse nutzen, um zu wachsen und dich weiterzuentwickeln. Ein wichtiger Schritt dazu ist – auch wenn es altmodisch klingt – Vergebung.
Vergebung ist nicht einfach. Doch sie spielt eine wichtige Rolle auf dem Weg zur Versöhnung. Es geht nicht darum, die Handlungen zu rechtfertigen, sondern es geht darum, sich selbst von der Last des Grolls und der Bitterkeit zu befreien.
Überfordere dich nicht, sei gnädig, wenn dieser Prozess Zeit braucht – und wenn es immer mal wieder Rückschläge gibt. In der Bibel ist die Rede davon, dass man „siebzig mal sieben mal“ vergeben solle. Ich vermute, Jesus wusste, dass es mit dem einmaligen Vorsatz nicht getan ist. Eher mit 490 kleinen Schritten. Und: du darfst vergeben, ohne zu vergessen. Letztendlich aber ermöglicht Vergebung, dich von der Vergangenheit zu befreien, die alte Last abzuschütteln und dich für deine volle Präsenz in der Gegenwart zu öffnen.
An dieser Stelle muss ich ein zweites Buch nennen: Die Kraft der Kriegsenkel von Ingrid Meyer-Legrand war Balsam für mich. Ich erkannte, dass mich meine Kindheit auf Zehenspitzen lehrte, mitfühlend zu werden, Grenzüberschreitungen zu erkennen und mich für andere einzusetzen. Ein Gewinn, aus dem meine Berufe erwachsen sind und der mich durchs Leben trägt. Dennoch brauchte es einen Kurs, eine Woche im Kloster und einige Stunden Supervision, diese Superkraft auch wirklich anzuerkennen. Am Ende jedoch, war es ein Weg, der sich gelohnt hat.
Fazit
Durch die Beschäftigung mit deiner Biografie lernst du immer besser, dich selbst liebevoll und mitfühlend zu behandeln. Wenn du das Gefühl hast, dass du bei der Erinnerung an die Leben nicht nur Schätze heben wirst, sondern auch mit alten Verletzungen konfrontieren wirst, dann hole dir Hilfe. Im biografischen Coaching bin ich gern an deiner Seite. Gemeinsam erkunden wir deine aktuellen und deine alten Bedürfnisse. Egal was passiert ist, du kannst jederzeit beginnen, für sie zu sorgen und deinen Versöhnungsprozess zu bewältigen.
Wenn du erst einmal kennenlernen willst, wie ich arbeite, dann nimm an einer kostenfreien Online-Schreibwerkstatt teil, die ich monatlich unter dem Titel „Museumsmomente“ anbiete.
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