In diesem Beitrag liest du, wie du anhand der Methode der vier Dimensionen der Genogrammarbeit aus Zahlen, Daten und historischen Spuren die wahren Geschichten deiner Urgroßeltern rekonstruieren kannst und dabei zu einem tieferen Verständnis deiner eigenen Wurzeln findest.
Wenn verschwundene Geschichten wieder lebendig werden
Es ist ein seltsames Gefühl, vor dem Stammbaum zu stehen und zu realisieren, dass ab der dritten Generation zurück fast alles im Nebel verschwindet. Da sind Namen – wenn wir Glück haben. Jahreszahlen – manchmal nur geschätzt. Und dann? Ein großes Nichts, das unsere Fantasie ungebremst zum Leben erweckt.
War die Urgroßmutter eine starke Matriarchin, die ihre Familie durch schwere Zeiten führte? Ein stiller Geist, der heimlich Gedichte schrieb? Eine Frau, die gegen die Konventionen ihrer Zeit rebellierte? Die Möglichkeiten sind endlos – und genau das ist das Problem.
Die Verlockung der Fantasie
In meiner Arbeit als Trainerin für biografisches Schreiben erlebe ich es immer wieder: Frauen, die von ihren Urgroßeltern schwärmen, als wären sie Figuren aus einem Roman. Sie projizieren ihre eigenen ungelebten Träume, ihre Sehnsüchte und manchmal auch ihre Enttäuschungen auf diese verschwundenen Gestalten.
„Mein Urgroßvater war bestimmt ein Held“, erzählen sie dann. „Er hat sicher im Krieg anderen geholfen oder war ein Widerstandskämpfer.“ Oder: „Meine Urgroßmutter war eine Heilerin, die mit Kräutern gearbeitet hat und heimlich Frauen bei der Geburt geholfen hat, obwohl das verboten war.“
Diese romantischen Vorstellungen sind verständlich – und menschlich. Aber sie führen dich weg von dem, was wirklich war. Und manchmal halten sie dich auch davon ab, Frieden mit deiner Familiengeschichte zu schließen.
Die vier Dimensionen der Wahrheit im Genogramm
In der Genogrammarbeit habe ich eine eigene Methode entwickelt, um anders zu forschen. Statt dich in unendlichen Möglichkeiten zu verlieren, konzentrierst du dich auf Wahrscheinlichkeiten. Vier Dimensionen helfen dir dabei, aus dem scheinbaren Nichts ein realistisches und oft überraschend berührendes Bild zu konstruieren.
1. Zahlen und Daten – Die harten Fakten sprechen lassen
Jede Zahl erzählt eine Geschichte. Das Geburtsjahr verrät, in welcher historischen Epoche ein Mensch sozialisiert wurde. Das Sterbealter gibt Hinweise auf Lebensumstände, Gesundheitsversorgung, vielleicht auch auf Kriege oder Epidemien. Die Anzahl der Kinder erzählt von Familienstrukturen, wirtschaftlichen Verhältnissen und der Rolle der Frau.
Nehmen wir eine Urgroßmutter, geboren 1875, gestorben 1952, neun Kinder. Was sagen uns diese Zahlen? Sie wurde im Kaiserreich groß, erlebte zwei Weltkriege, sah die Weimarer Republik und die Anfänge der Bundesrepublik. Neun Kinder bedeuteten damals: eine Frau, deren Leben vor allem von Mutterschaft geprägt war. Die hohe Kinderanzahl deutet auf eine Zeit, als Kinder noch Altersvorsorge waren.
2. Sozialer Status – Die unsichtbaren Grenzen
Der Beruf des Urgroßvaters, der Wohnort, die Heiratsmuster in der Familie und selbst die Wahl der familientypischen Vornamen zeichnen die sozialen Grenzen vor, innerhalb derer sich ein Leben abspielte. Ein Landarbeiter hatte andere Möglichkeiten als ein Handwerker, ein Handwerker andere als ein Beamter.
Diese Grenzen waren damals starrer als heute. Wer als Bauernkind geboren wurde, blieb meist ein Leben lang in dieser Schicht. Bildung war Luxus, soziale Mobilität die Ausnahme. Dass vieles im vorgegebenen Rahmen blieb, erleichtert uns heute die Bildung unserer Hypothesen.
3. Gesellschaftliche Ereignisse – Wenn Geschichte persönlich wird
Jeder Mensch ist ein Kind seiner Zeit. Die großen historischen Ereignisse schreiben sich in persönliche Biografien hinein – manchmal als Drama, manchmal als stille Veränderung im Alltag.
Wer 1914 zwanzig Jahre alt war, dessen Leben wurde vom Ersten Weltkrieg zerrissen. Wer 1929 ein kleines Geschäft aufbaute, wurde von der Weltwirtschaftskrise getroffen. Wer in den 1930er Jahren erwachsen war, musste sich mit dem Thema NSDAP und Weltkrieg auseinandersetzen und auf seine Weise Verantwortung für sich und seine Familie tragen. Dieses Kapitel verlangt nach einem eigenen Blogartikel, der demnächst folgen wird.
Die historischen Koordinaten, die du herausgefunden hast, helfen dir, die Entscheidungen deiner Vorfahren zu verstehen.
4. Regionale Erkenntnisse – Die Macht der Landschaft
Jede Region prägt ihre Menschen anders. Das Rheinland mit seiner Offenheit und seinem Handel, die norddeutsche Tiefebene mit ihrer Weite und Kargheit, die Alpen mit ihren engen Tälern und der Notwendigkeit zur Selbstgenügsamkeit oder meine Heimat, die Lausitz mit ihrem Schatz an Mythen und Sagen, diese regionalen Besonderheiten formen die Mentalitäten ihrer Bewohner:innen über Generationen.
Auch die lokalen Entwicklungen und Ereignisse spielen eine Rolle: Lebte man überwiegend von der Landwirtschaft oder entwickelten sich große Städte? Welche Industrien entstanden zur Zeit der jeweiligen Vorfahren? Gab es Naturkatastrophen? Welche religiösen Traditionen bestimmten die Region? Ein Urgroßvater aus dem katholischen Münsterland lebte in einer anderen Welt als einer aus dem protestantischen Ostpreußen.
Eine Reise ins Altvatergebirge – Mein Urgroßvater bekommt ein Gesicht
Mein Urgroßvater wurde 1850 im Altvatergebirge geboren. Das war damals deutsch und ist heute Tschechien. Mehr wusste ich jahrelang nicht von ihm. Ein Name, ein Datum, ein Ort. Mein Großvater war bei meiner Geburt schon ein alter Mann, der wenig sprach. Erzählte er von früher, dann von seiner Zeit als Kammerdiener an den verschiedenen Adelshäusern. Über seine Kindheit oder seine Heimat gab es keine einzige Geschichte.
Was mir bleibt, ist die vier Dimensionen zu erforschen, um mir ein Bild meines Urgroßvaters zu machen.
Die Zahlen sprechen: 1850 geboren bedeutete, er war 21, als 1871 das Deutsche Reich gegründet wurde. Er erlebte als junger Mann den Übergang von der alten feudalen zur neuen nationalen Ordnung. Als er 1922 starb war die Welt bereits eine völlig andere geworden. Was ich noch in den genialerweise inzwischen verfilmten und online abrufbaren Kirchenbüchern gefunden habe, ist folgendes: Er war zweimal verheiratet. Seine erste Frau, meine Urgroßmutter, starb als mein Großvater 10 Monate alt war, worauf er sehr schnell wieder heiratete. Vier seiner sechs Kinder starben, bevor sie drei Jahre alt waren.
Der soziale Status zeichnet Grenzen: Das Altvatergebirge war Bauern- und Handwerkerland. Keine großen Städte, aber auch keine extreme Armut. Die Grundherrschaft des Adels wurde um 1840 aufgelöst. Stattdessen gab es Großgrundbesitzer. Kleinere Industrien, wie Brauerei, Zuckerfabrik und Streichholzfabrik, siedelten sich an. Ende des 19. Jahrhunderts kam die Eisenbahn und verband das Dorf meines Urgroßvaters mit der Welt. Ich stelle mir vor, dass die Menschen mit ihren Händen arbeiteten und stolz darauf waren. Mein Urgroßvater, so erfuhr ich aus den Kirchenbüchern, war Schuhmacher und Auszugsgärtner, was soviel bedeutete, wie genügend Land zu haben, um die eigene Familie zu versorgen.
Die Geschichte schreibt mit: Sein Leben war eingefasst von gewaltigen Umbrüchen und Konflikten. Die Gründung des Deutschen Reiches, der Erste Weltkrieg, der Zusammenbruch der Donaumonarchie. Seine Identität als deutschsprachiger Bewohner des Sudetenlandes wurde immer wieder neu definiert. Und ich lese vom „Mährischen Ausgleich“, einer politischen Initiative zur Befriedung von Konflikten zwischen Tschechen und Deutschen, die hätte Vorbild für weitere politische Entscheidungen hätte sein können.
Die Region formt den Menschen: Das Altvatergebirge ist ein Ort zwischen den Welten. Damals war sie weder ganz deutsch, noch ganz böhmisch oder mährisch. Es war eine Region, die Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit lehrte, wo Menschen lernten, mit Veränderung zu leben. Fast alle Menschen waren katholisch – der Glaube gab Halt in einer unsicheren Welt. In den Kirchenbüchern finde ich eine hohe Kindersterblichkeit, was dazu führt, dass neugeborene Kinder oft bereits am Tag ihrer Geburt getauft wurden. Der Tod war allgegenwärtig. Die Familien lernten früh, loszulassen und trotzdem weiterzumachen.

Die Spurensuche – Wenn Vergangenheit greifbar wird
Im Jahr 2019 besuchte ich gut vorbereitet die Heimat meines Großvaters und seiner Vorfahren. Eine Woche lang wanderte ich auf den Spuren meiner Familie. Es war eine emotionale Reise – nicht nur geografisch, sondern auch durch die Zeit.
In der sanften Berglandschaft spürte ich die Ruhe, aber auch die Abgeschiedenheit, die das Leben meines Urgroßvaters geprägt haben muss. Bei unseren Touren sind wir mal auf tschechischem, mal auf polnischem Boden. Es ist Grenzland. Die Architektur der alten Dorfkirchen erzählt von einer tiefen Religiosität, die den Rhythmus des Lebens bestimmte. Auf den Friedhöfen fand ich auf verwitterten Grabsteinen die deutschen Namen einer verschwundenen Welt und verstand plötzlich, in welcher Atmosphäre mein Urgroßvater groß geworden war.
Mein absolutes Highlight auf der Reise war die unverhoffte Gelegenheit, das Geburtshaus meines Großvaters nicht nur zu finden, sondern auch besichtigen zu dürfen. Es war ein kleines, einfaches Haus mit Garten an einem kleinen Fluss. Heute ist es das Ferienhaus einer Familie aus Ostrava. Ich habe mich sehr gefreut, es in diesem guten, sensibel restaurierten Zustand vorzufinden.
Ein Foto meines Urgroßvaters gibt es nicht. Und dennoch hat er jetzt für mich ein Gesicht. Meine Urgroßeltern lebten nicht in der romantischen Bergidylle, die ich mir vorgestellt hatte. Es war ein einfaches Leben, gezeichnet von Arbeit und Verlust. Und von der Notwendigkeit, trotz allem weiterzumachen.
Das Puzzle fügt sich zusammen
Aus meinen vier Dimensionen entstand ein Bild meines Urgroßvaters, das mich überraschte. Nicht der romantische Held meiner Fantasie, nicht der unterdrückte Bauer, den ich manchmal vermutet hatte. Sondern ein Mann, der Wurzeln und Wandel gleichzeitig in sich trug.
Er war wahrscheinlich ein Mann weniger Worte, aber großer Verlässlichkeit. Jemand, der seine Familie durch stürmische Zeiten führte, nicht mit großen Gesten, sondern mit stiller Beharrlichkeit. Ein Mensch, der den Wechsel der politischen Systeme überlebte, weil er seine Identität nicht von äußeren Umständen abhängig machte.
Das bewegte mich mehr als jede romantische Geschichte, die ich mir hätte ausdenken können.
Wenn Verstehen zu Frieden führt
Diese Art der Forschung schenkt uns etwas Kostbares: Sie befreit uns von den endlosen „Was wäre wenn“-Schleifen und führt uns zu einem liebevollen Verständnis dessen, was wahrscheinlich war. Statt unsere Vorfahren zu Helden oder Opfern unserer Fantasie zu machen, dürfen wir sie als Menschen sehen – mit den Möglichkeiten und Grenzen ihrer Zeit.
Hier beginnt etwas Heilsames: Wir hören auf, unsere Vorfahren dafür zu verurteilen, dass sie nicht die Menschen waren, die wir uns gewünscht hätten. Stattdessen sehen wir, welche Entscheidungen in ihrer Zeit überhaupt möglich waren.
Mein Urgroßvater konnte nicht der weltoffene, emotionale Vater sein, den ich mir für meinen Großvater gewünscht hätte – aber er war wahrscheinlich ein Mann, der seine Familie in stürmischen Zeiten zusammengehalten hat, so gut er konnte.
In dieser Erkenntnis liegt eine stille Befreiung: Wir sind nicht an die ungelebten Träume unserer Vorfahren gebunden, aber wir tragen ihre Stärke in uns.

Die Methode in der Praxis – Ein Werkzeug für deine eigene Forschung
Wie kannst du diese Methode für deine eigene Familiengeschichte nutzen? Hier eine praktische Anleitung:
Schritt 1: Sammle die harten Fakten
- Geburtsjahr, Sterbejahr, Geburtsort
- Beruf, soweit bekannt
- Anzahl der Kinder
- Heiratsdatum und -alter
Schritt 2: Erforsche den historischen Kontext
- Was geschah in der Welt, als diese Person 20, 30, 40 Jahre alt war?
- Welche Kriege, Krisen, gesellschaftlichen Umbrüche prägten ihre Lebenszeit?
Schritt 3: Verstehe die sozialen Strukturen
- Welcher sozialen Schicht gehörte die Familie an?
- Welche Bildungsmöglichkeiten gab es?
- Wie sahen die Geschlechterrollen aus?
- Was war normal, was war Ausnahme?
Schritt 4: Erforsche die regionale Prägung
- Welche Industrien, welche Landwirtschaft gab es?
- War man eher katholisch oder protestantisch?
- Welche lokalen Traditionen kennst du? Sind Naturkatastrophen bekannt?
- Wie war die Mentalität der Menschen dort?
Schritt 5: Füge die Puzzlesteine zusammen
- Was ist wahrscheinlich, wenn du alle Faktoren zusammennimmst?
- Welche Lebenswege waren realistisch?
- Welche Entscheidungen mussten getroffen werden?
Mehr als nur Ahnenforschung – Ein Weg zur Selbsterkenntnis
Zunächst bedeutet das Erforschen ein gutes Stück Arbeit. Reicht es dir, die entsprechenden Artikel in Wikipedia durchzuforsten? Oder gehst du in deiner Erforschung der Geschichte so weit, dir in Archiven alte Zeitungsartikel aus der Region deiner Urgroßeltern herauszusuchen?
Diese Arbeit wird nicht nur dein Bild der Vergangenheit ändern – sie verändert auch dein Verständnis von dir selbst, wenn du begreifst, welche Prägungen und Überlebensstrategien durch die Generationen in deiner Familie weitergegeben wurden.
Dann entdeckst du Eigenschaften, die plötzlich Sinn machen. Die Sturheit, die andere an dir kritisieren, war vielleicht die Beharrlichkeit, die deine Urgroßmutter durch schwere Zeiten gebracht hat. Die Vorsicht, die dich manchmal daran hindert, deinem Glück zu folgen, war möglicherweise die Klugheit, die deinen Vorfahren das Überleben lehrte.
Wir erben nicht nur Gene – wir erben Haltungen und Ängste. Wenn du diese Hintergründe entschlüsselst, kannst du zukünftig bewusst entscheiden, ob es sich gerade um ein „altes“ Gefühl handelt oder auch im Hier und Jetzt angemessen ist. Und wir erben Potenziale und Stärken. Sie sind in deinen Genen eingeschrieben und du darfst ihnen vertrauen.
Wahrscheinlich wahr – und offen für Überraschungen
Am Ende ist es paradox: Indem du aufhörst zu fantasieren und stattdessen den Wahrscheinlichkeiten folgst, werden deine Vorfahren lebendiger, nicht blasser oder ärmer. Sie werden zu Menschen mit echten Konflikten und verständlichen Schwächen.
Auch dann, wenn eine Wahrscheinlichkeit noch keine hundertprozentige Wahrheit ist. Denn du wirst niemals vollständig herausfinden, wie deine Urgroßeltern wirklich waren. Vielleicht war dein Urgroßvater doch der heimliche Poet, vielleicht deine Urgroßmutter tatsächlich die mutige Frau, die anderen half. Vielleicht ist das die 5. Dimension dieser Methode: Sei offen für Überraschungen, ohne dass du dich in endlosen Spekulationen verlierst. Du baust auf Wahrscheinlichkeiten auf. Und alles was du darüber hinaus findest, gibt dem Bild mehr Farbe und Gefühl.
Und du selbst? Du wirst freier. Frei von den romantischen Projektionen, die dich unter Druck setzen. Die Dankbarkeit für das, was war, macht dich frei, deine eigenen Entscheidungen zu treffen, ohne die Last dessen, was nie sein konnte, weiterzutragen.
Heute, in einer Zeit, in der wir so viel über Individualität und Selbstverwirklichung sprechen, tut es gut zu verstehen: Wir kommen von irgendwo her. Und das „Irgendwo“ war nicht perfekt, aber es war echt. Unsere Urgroßeltern waren nicht die Helden unserer Träume, sondern Menschen, die ihr Leben gelebt haben, so gut sie konnten, mit den Mitteln, die ihnen in ihrer Zeit zur Verfügung standen.
Das ist die wahre Geschichte. Und sie ist schön genug, um erzählt zu werden.
Wenn du diesen Weg nicht allein gehen möchtest
Wenn du Lust bekommen hast, deine eigenen „verschwundenen“ Geschichten zu erkunden, dann lass uns gemeinsam auf die Spurensuche gehen.
In meinen Workshops zur Genogrammarbeit begleite ich Frauen dabei, ihre Familiengeschichte zu entschlüsseln. Aus romantischer Fantasie wird eine reiche, komplexe Wahrheit, die dich trägt und befreit.