Das Land, in dem ich geboren wurde, wurde im Jahr der deutschen Wiedervereinigung 1990 zu einer „Fußnote in der Weltgeschichte“ – So jedenfalls nannte es Stefan Heym, der DDR-Schriftsteller, dessen Bücher keineswegs zur Pflichlektüre in den Schulen gehört hatte, die aber in den Kreisen, in denen ich verkehrte, von Hand zu Hand gingen.
Sylvia Tornau organisiert gerade eine spannende Blogparade zum Thema „Geteiltes Leben – wie viel DDR steckt nach 35 Jahren Einheit noch in mir?“ Und ich nutze die Gelegenheit zum Nachdenken darüber, was in 35 Jahren aus einer Fußnote so alles werden kann.
Mein Leben in der DDR
Als ich 1963 geboren wurde, gab es nicht nur zwei deutsche Staaten, es liefen auch Mauern und Grenzwälle mitten hindurch, die diese Trennung manifestieren sollten. Zumindest wünschte sich das die Parteiführung der DDR. Dazu behauptete sie, dass der Krieg, der noch gar nicht so lange zurücklag, von den bösen Nazis im Westen angezettelt worden war, während nach Betriebsenteignungen und Bodenreform bei uns im Osten die braven Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit übrig geblieben waren.
Trennung gab es auch in den Köpfen. Das lernte ich schön früh. Dank des technischen Geschicks meines Vaters und dem Fernsehapparat, der schon zeitig unser Wohnzimmer besiedelte, wurde nach dem Abendbrot zuerst „Unser Sandmännchen“ geschaut und danach umgeschaltet. Nach der Werbung für all die schönen Dinge, die es hier im Osten eben nicht zu kaufen gab, kam ein zweiter Sandmann. Und dann ab ins Bett und niemandem davon erzählen.
Irgendwann beichtete ich es doch meiner besten Freundin, die mir daraufhin erklärte, dass sie auch niemandem sagen dürfe, dass auch bei ihnen zu Hause zwei Sandmänner geschaut wurden. Wir lernten früh: „Trau – schau wem“ und „Feind hört mit“. Und wir alle hatten offenbar zwei Wahrheiten, eine für zu Hause und eine für Draußen.
Und immer gab es in meinem Umfeld auch Menschen, die zeigten, dass es auch anders geht, dass ein aufrechtes Leben möglich ist, mal war es ein Kaplan, mal ein engagierter Geschichtslehrer, mal die Patentante, die am 13. August 61 zufällig auf der anderen Seite der Mauer gestanden und sich im Westen ein neues Leben aufgebaut hatte. „Steh gerade, Mädel“ hatte auch mein Großvater immer gesagt. Naja, er hatte es schon wörtlich gemeint. Aber dass da eins mit dem anderen zusammenhing, davon sang schon Bettina Wegner.
Ist so’n kleines Rückgrad, sieht man fast noch nicht.
Darf man niemals beugen, weil es sonst zerbricht.
Grade, klare Menschen wär’n ein schönes Ziel.
Leute ohne Rückgrad hab’n wir schon zuviel.
Bettina Wegner
Selber denken und sagen, was man meint – das war nicht gern gesehen. Doch ich hatte keine Lust mehr auf diese Doppelzüngigkeit. Ich wollte ein Land, in dem Menschen aufrecht und solidarisch leben können. Die Stasi (Staatssicherheit) machte Hausbesuche – auch bei meiner Mutter und im Krankenhaus, in dem ich damals arbeitet.
Habe ich damals an einen Ausreiseantrag gedacht? Nicht wirklich. Hier war und ist ja mein Zuhause. Und es gab ja auch Dinge, die ich sehr schätzte. Zum Beispiel, dass es normal war, dass Frauen arbeiten gingen – ohne irgendjemanden um Erlaubnis zu bitten. Dass es ausreichend Kindergartenplätze gab, dass kaum jemand durch das soziale Netz fiel.
Der Traum von einem kleinen unabhängigen Land
Ähnlich wie heute lebte ich auch damals in einer Bubble Gleichgesinnter. Wir trafen uns in Kirchen-, Familien- und Mütterkreisen und sprachen darüber, wie wir uns ein Leben in Freiheit, Frieden und im Einklang mit der Umwelt vorstellten. Einige von uns waren Mitglieder im Neuen Forum geworden oder berichteten von den Aktivitäten von Demokratie Jetzt, den Bürgerrechtsbewegungen, die sich in der Vorwendezeit gründeten.
Nachdem sich die politische Lage im September/Oktober 1989 zuspitzte, wollten manche Gruppenmitglieder so schnell als möglich die D-Mark. Und wir alle wollten reisen können.
Doch sonst hätten wir dem Vereinigungsprozess gerne Zeit gegeben. Ein kleines, unabhängiges Land – so wie Dänemark beispielweise – das sich demokratisch ausrichtet und in einem klugen Prozess neu sortiert, das wäre unser Ideal gewesen.
Prüfet alles und das Gute behaltet.
1.Thessalonicher 5:21
Alles so schön bunt hier
Es kam anders und so schnell. „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Diese Äußerung des SED-Spitzenfunktionärs Günter Schabowski löste am 9. November den friedlichen Sturm auf die Berliner Mauer aus und ehe wir uns versahen waren wir im Kapitalismus angekommen, der nun Freie Marktwirtschaft hieß.
Spannend ist, was sich die DDR-Bürger von ihren ersten 100 Westmark kauften. Spielzeug für die Kinder, Barbiepuppen, Kassettenrekorder, Turnschuhe und Bananen, Bananen, Bananen. Ich erinnere mich, wie mir Tränen der Rührung in den Augen standen, als ich in einem riesigen Plattenladen stand, WOM vermutlich. Ich kaufte „The lamb lies down on Broadway“.
Unsere erste Reise war ein langes Wochenende in Amsterdam, dann Salzburg, Paris, Paris, Paris und später Südeuropa und Südafrika. Meine bisherigen liebsten Urlaubsorte, Prag und die Ostsee waren für lange Zeit abgeschrieben.
Something inside me has just begun,
Lord knows what I have done,
And the lamb lies down on Broadway.
They say the lights are always bright on Broadway.
They say there’s always magic in the air.
Genesis
Verlorene Orte
Obwohl wir die andere, größere Hälfe des Landes dazugewannen (oder sie uns???), ging auch so vieles verloren, was bewahrenswert gewesen wäre. „Schulgarten? Drüben gibt’s keine Schulgärten. Schluss damit“, hieß es. Jugendklubs hatten plötzlich kein Geld mehr. Betriebe wurden abgewickelt, teils weil sie unproduktiv waren, teils weil sie von westlichen Konkurrenten aufgekauft und geschlossen wurden.
Alte Rittergüter und Schlösser kamen für eine symbolische Mark unter den Hammer. Die Kommunen im Osten waren klamm und freuten sich über die Versprechen der Investoren. Bald waren auch Bau- und Wohnungsunternehmen vakant. „Es gab eine Mitnahmementalität von allem.“ resümieren Annett Gröschner, Peggy Mädler und Wenke Seemann in ihrem lesenswerten Werk „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“.
Ein bisschen beneide ich die drei Schriftstellerinnen beim Lesen und beim Aufrollen der alten Geschichten. Mir fehlen sie, die Frauenkreise der Vorwendezeit, in denen wir so alles besprechen konnten, von neuen Boulettenrezepten über die Absonderlichkeiten der Wohnungsbauprogramme bis hin zu den bitterbösen Stasi-Witzen. (Stasi-Beamter auf der Straße: „Wie beurteilen Sie die politische Lage?“ Passant: „Ich denke …“ Stasi-Beamter: „Das genügt – Sie sind verhaftet!“)
Der einst prunkvolle Saal eines Hotels, in dem über 100 Jahre lang alle öffentlichen Veranstaltungen, Brigadeweihnachtsfeiern, Schulanfänge und Jugendweihen stattfanden, steht seit Jahren leer und verfällt. So gehen Orte der Gemeinschaft verloren.
Verlorene Geschichten
Ich habe darüber nachgedacht, warum sich diese Kreise damals so schnell auflösten. Vielleicht war es so, dass wir plötzlich alle mit uns zu tun hatten. Die Sorge vor Arbeitslosigkeit brachte Menschen dazu, sich widerspruchlos den Interessen der Arbeitgeber zu fügen. Ich erinnere mich an einen Chef, der bei jeder Gelegenheit sagte, er brauche nur aus dem Fenster zu rufen und schon hätte er meine Stelle neu besetzt.
Von jetzt auf gleich – unverzüglich und sofort – mussten wir uns mit einem neuen System bekannt machen. Sich in einer neuen Gesellschaftsform zurechtzufinden ist schwerer, als eine fremde Sprache zu lernen.
Vieles, was in der DDR automatisch geregelt war, bedurfte plötzlich eines Antrags und eines Verfahrens, von dem wir erst einmal wissen mussten, dass es das gab. Statt zu agieren, waren wir hauptsächlich damit beschäftigt, zu reagieren. Wir – wenn ich wir schreibe, meine ich mich, meine Familie, Menschen in meinem Umfeld – wir wollten ins neue Raster passen. Augen zu und durch – das kannten wir ja auch schon von früher.
Die neue Freiheit bedeutete auch, dass wir nun alles sagen durften. Doch wen interessierte es? Die Führungspositionen in Verwaltung und Wirtschaft waren von Menschen aus denen westlichen Bundesländern besetzt. Eine dieser West-Frauen sagte vor kurzen in einem Ost-West-Kurs, an dem ich teilnahm: „Wir mussten kommen, denn wir hatten dieses Herrschaftswissen, das ihr nicht hattet!“ Ich bin bald vom Stuhl gefallen.
Die Quittung bekommen wir seit einigen Jahren. Menschen, die sich ungehört, ungesehen und abgehängt fühlen, sind anfällig für rechtes, menschenverachtendes Gedankengut. Sie fühlen sich schlecht und darum soll es niemandem besser gehen.
Was ich vom Leben gelernt habe
Nichts geht wirklich verloren. Dinge wechseln den Aggregatzustand. Es ist ein bisschen, wie in der Physik. Aus kinetischer Energie wird potentielle Energie und umgekehrt. Mal bist du das Teilchen und mal bist du die Welle.
Geschichten, die nicht erzählt werden, gehen nicht verloren. Sie verwandeln sich in Trauer und Scham, in Missgunst, Neid und Gewalt. Sie brodeln unter der Oberfläche wie ein Vulkan, dessen Potential noch nicht bekannt ist.
Geschichten, die erzählt werden, können zur Versöhnung beitragen. Sie haben die Kraft, Grenzen wirklich zu überwinden und Veränderungen mutig und sauber zu gestalten. Dafür gibt es diesen Blog.
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Liebe Eva, danke für deinen wunderbaren Beitrag zu meiner Blogparade. Zwei Dinge vorab: ich habe mich riesig gefreut, den Bettina Wegener Text in deinem Artikel zu lesen und darüber, dass du „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“ ebenfalls gelesen hast. Ich finde das ein sehr informatives und gleichzeitig berührendes Buch, eben weil es die Stimmung der Gespräche der drei Frauen transportiert.
Mit deinem Beitrag hast du mich an den Schulgarten erinnert, das war mir gar nicht so bewusst, dass es die nicht mehr gibt. Schade. Für mich war das in der Schulzeit eine meiner Lieblingsbeschäftigungen: umgraben, in der Erde wühlen, pflanzen und ernten und das alles unter freiem Himmel. Spannend finde ich auch, dass du schreibst, wie früh wir gelernt haben, dass es zwei Wahrheiten gibt. Die Sandmanngeschichte habe ich noch nie unter diesem Aspekt betrachtet, es war so selbstverständlich nur über den „richtigen“ Sandmann zu sprechen. Den Stasi Witz hatte ich auch vergessen, dabei hing lange Zeit an meiner Wohnungstür der Spruch „Hier wird nicht gedacht. Wir handeln!“. Dass die DDR damals so schnell aufgegeben wurde, verramscht für die D-Mark, ist für mich, wann immer ich darüber nachdenke, immer noch mit einem Schmerz behaftet. Dem Schmerz, dass damals eine Chance verkauft wurde, dass es keinen Vereinigungsprozess gab, sondern nur einen Wechsel, bei dem wir uns von jetzt auf gleich zurechtfinden mussten, in der freien Marktwirtschaft.
Den Schluss deines Beitrages finde ich stark und berührend. Der trifft sehr genau das, warum ich diese Blogparade veranstalte. Damit die Geschichten erzählt werden und sich nicht „in Trauer und Scham, in Missgunst, Neid und Gewalt“ wandeln. Sondern ihre
Kraft entfalten können, um „Grenzen wirklich zu überwinden und Veränderungen mutig und sauber zu gestalten.“ Ich danke dir von Herzen. Sylvia
Vielen Dank für diese Antwort, Sylvia.Ich habe mich sehr gerne inspirieren lassen. Eva
Dieses Buch kenne ich nicht, ich werd mich mal danach umschauen.
Bin selbst auch aus der DDR, Jahrgang 59.
Diese Frauenkreise der Vorwendezeit sind mir gänzlich unbekannt – ich weisz nur, dasz sich Ausreiseantragsteller:innen oft in Kirchengemeinden sammelten. Da gehörte ich aber nicht dazu, ich hab es, genau wie Du, als mein Zuhause gesehn und wollte nie ausreisen.
Die diffuse Bedrohung und ganz offensichtliche Anzeichen von Überwachung und Repressalien (später bestätigt) haben mich damals sehr verunsichert. Irgendeinen sozialen Rückhalt hatte ich selbst nie.
Ansonsten habe ich damals aber besser und gesicherter gelebt als danach.
Nicht alle, denen es schlecht geht, sind anfällig für rechtes Gedankengut, das möchte ich so nicht sagen. Und ich wünsche niemandem Schlechtes, nur weil ich seit 1990 keine einzige Reise mehr machen konnte, ja nicht einmal bis zu einem Arzt in die nächstgelegene Stadt komme… – und auch sonst nie wieder ein normales Leben hatte. Es ist halt, wie es ist und ich versuche für mich selbst, das Beste draus zu machen.
Liebe Grüsze
Mascha
Liebe Mascha, ja mit den „Blühenden Landschaften“ hat es nicht ganz so geklappt. In ländlichen Gegenden, wie beispielsweise der Lausitz, wo ich herkomme, spüren die Bewohner*innen sehr deutlich die negativen Folgen der Wiedervereinigung. Viele junge Familien zogen in den 90ern in die alten Bundesländer, weil es dort (besser bezahlte) Arbeit gab. Diese Generation ist heute in unserem Alter (ich bin Jg. 63) und die Generation der Kinder, die heute um die 40 ist, fehlt, also auch Ärzte, Handwerker, Busfahrer, Fachkräfte usw.
Ich habe ein bisschen in Deinem Blog gestöbert, aber nicht herausgefunden, wo Du herkommst.
Ich lebe seit 1981 in Dresden, da gab es verschiedene Kreise, wenn man nur danach suchte oder gefunden wurde. Oft, aber längst nicht immer passierte das im Umfeld der Kirchen. Heute erlebe ich, ähnlich wie Du, mehr Einzelkämpfer als früher, weniger Kreise Gleichgesinnter. Und doch glaube ich, wir leben in der besten aller Welten (oder eben der einzigen die wir haben).
Das Beste daraus zu machen, ist doch ein guter Weg. Möge er gesegnet sein 🙂
Viele liebe Grüße! Eva
Liebe Eva,
ich bin erst heute wieder online – man hat mir meinen Internetzugang versehentlich abgeklemmt… ich bin aus einer Kleinstadt in der Nordharz-Region, das erklärt vielleicht einiges.
LG Mascha