Der Beginn deiner Reise zur Familiengeschichte

Vermutlich kennst du die Namen deiner Großeltern und vielleicht sogar deiner Urgroßeltern? Aber kennst du auch ihre Geschichten? Weißt du, wo sie gelebt haben? Und weißt du auch, wie sie geliebt haben, gelitten haben, gehofft haben? Und fragst du dich manchmal: Was davon trage ich in mir – ohne es zu wissen?

In diesen Momenten ist sie da, diese leise Ahnung, dass da mehr ist – mehr Geschichte, mehr Verbindung, mehr Einfluss deiner Vorfahren auf dein heutiges Leben, als du zugeben möchtest. Besonders als Frau in der Lebensmitte beginnst du, diese Fragen zu stellen. Nicht ohne Grund. Die Frage nach dem „wohin“ der ersten Erwachsenenjahre sind weitgehend beantwortet – vorläufig. Und für den nächsten Schritt nach vorn lohnt sich ein Blick zurück.

Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson hat ja dieses Stufenmodell entwickelt. Jedem Lebensalter werden bestimmte Aufgaben zugeordnet. Ein Baby muss Vertrauen entwickeln können, dann im Kleinkindalter geht es um Autonomie, der Ich-Sinn entsteht und das Kind erkennt sich als eigene Person. Dann folgen Phasen, in denen das Kind Freude im Gestalten erlebt und sich selbst organisiert, dann die Pubertät, in der junge Menschen ihr eigenes Selbstbild formen – unabhängig von den Werten der Eltern. Dann die Familienzeit, Intimität und Solidarität genannt, in der enge langdauernde Beziehungen entstehen.

Und nun sind wir laut Erikson in der Phase der „Generativität“ angekommen. Das Konzept der Generativität ist grundsätzlich zukunftsorientiert gemeint. Gleichzeitig entwickelt ein Mensch typischerweise ein tieferes Verständnis für seine eigene Position in der Generationenkette. Was habe ich erlebt, welche Erfahrungen, Traditionen und Werte möchte ich weitergeben.

Das stille Erbe

Du hast von deinen Vorfahren Augenfarbe und Haarstruktur geerbt. Das ist sichtbar – und während es mich früher nervte, auf solche Übereinstimmungen angesprochen zu werden, rührt es mich heute, zu sehen, wie mein Bruder unserem Vater immer ähnlicher wird.

Doch das Erbe ist größer als gedacht: Haltungen, unausgesprochene Regeln, Bewältigungsstrategien. Die Art, wie du liebst. Die Art, wie du mit Konflikten umgehst. Die Art, wie du dich selbst wahrnimmst – als stark oder schwach, als wertvoll oder ersetzbar, als jemand, der nehmen darf oder immer geben muss.

Diese Prägungen sind oft so subtil, dass du sie nicht als „vererbt“ erkennst. Sie erscheinen dir natürlich, als wären sie Teil deiner Persönlichkeit. Als hättest du sie selbst gewählt.

Eine Kursteilnehmerin erzählte mir einmal: „Ich konnte nie ‚Nein‘ sagen, ohne mich schuldig zu fühlen. Erst als ich den Zusammenhang herstellte zu meiner Großmutter, die als einzige ihrer Geschwister den Krieg überlebte und sich ein Leben lang fragte ‚Warum ich?‘, verstand ich diesen inneren Zwang zum Dienen und Funktionieren.“

Wir tragen die Geschichten unserer Herkunft in uns. Auch wenn wir sie nie gehört haben. In meinem Artikel über die Ahnen und ihren Einfluss auf deinen Berufsweg gehe ich genauer darauf ein, wie eine tiefere Auseinandersetzung mit deiner Herkunft dir helfen kann, berufliche Muster zu erkennen und zu verstehen.

Hindernis

Warum so viele Frauen „nichts wissen“ – und es trotzdem in sich tragen

Bei uns hat nie jemand von früher erzählt„, schrieb mir eine Frau bei Facebook. Und schon flogen darunter die Likes. „Das sagt doch auch etwas!“, ergänzte sie. Besonders in Generationen, die von Weltkriegen, Flucht oder wirtschaftlicher Not geprägt wurden, hat das Schweigen System. Und es ist halt auch eine Vermeidungsstrategie, die scheinbar funktioniert. Nur, dass unbewusst eben doch etwas weitergegeben wird, weil man bekanntlich nicht nicht kommunizieren kann (Watzlawik). Außerdem: Die eigene Geschichte galt als unwichtig, angesichts dessen, was „wichtigere“ Personen erlebt hatten.

Die Helden waren die geschäftlich erfolgreichen Männer, die tragischen Schicksale der Männer im Krieg– sie bekamen Raum in den Erzählungen. Die stillen Leistungen der Frauen, die das Überleben organisierten, Kinder großzogen unter widrigsten Umständen, emotionale Stabilität gaben, während die Welt zusammenbrach – sie waren „normal“ und wurden selten gewürdigt.

Hinzu kommt: Frauen waren lange Zeit die Hüterinnen der Familiengeheimnisse. Sie wussten um uneheliche Kinder, um Schicksalsschläge, um verborgene Talente und tiefe Verletzungen. Sehr oft wurde dieses Wissen nicht weitergegeben, aus Scham, aus Selbstschutz oder weil man „die Vergangenheit ruhen lassen wollte“.

„Ich hab keine besondere Familiengeschichte„, sagst du vielleicht auch. Doch jede Familie hat ihre Geschichte. Und gerade in den vermeintlich „gewöhnlichen“ weiblichen Biografien verbergen sich die größten Schätze an Erkenntnis und Heilung.

Die Folgen dieser Lücke

Die Leerstellen in deinem Wissen über deine Herkunft hinterlassen Spuren. In dir – und in unserer Gesellschaft. Noch immer ist die Gleichwertigkeit weiblicher Sorgearbeit nicht anerkannt. Wir Frauen tragen dieses Erbe – und die Verpflichtung, unseren Töchtern (oder besser den Frauen der kommenden Generationen) eine frauenfreundlichere Welt zu hinterlassen.

Nicht zu wissen, woher du kommst und welche Kräfte dich geformt haben, führt vielleicht zu einem diffusen Gefühl der Heimatlosigkeit – selbst wenn du an einem Ort verwurzelt bist. Für mich fühlte es sich immer nach einen „Dazwischen“ an, in dem ich viele Jahre meines Lebens lebte. Und meine Entdeckungen in der eigenen Familienforschung fühlten sich sehr oft nach einen „Aha“ und im besten Falle nach einem Nachhausekommen an.

Ohne Kenntnis deiner familiären Muster wiederholst du sie unbewusst. Wenn du dich in einem toxischen Arbeitsumfeld aufopferst, bist du vielleicht die Enkelin einer Großmutter, die in einer unglücklichen Ehe ausharrte, „weil man das eben tat“. Dein ständiger Drang zur Perfektion mag ein Echo deiner Urgroßmutter sein, die nur durch tadellose Leistung Anerkennung in einer männerdominierten Welt fand.

Kommen wir also noch einmal auf Erikson und sein Stufenmodell zurück. Immer kann es passieren, dass Menschen einen wichtigen Entwicklungsschritt versäumen. Stagnation und Selbstabsorption stellen in Eriksons Modell den negativen Gegenpol zur Generativität dar. Du kennst sie vielleicht auch –  Menschen in diesem Alter, die hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt bleiben. Sie sind in einem Kreislauf von Selbstbezogenheit und materieller Befriedigung gefangen. Ich! Ich! Ich! Mein Haus – mein Auto – mein Instagram-Account. Eine tiefere Bedeutung oder Verbindung zu anderen Generationen suchst du da vergebens. Was sich zeigt, ist eine übermäßige Sorge um das eigene Wohlbefinden, Status oder persönlichen Komfort, ohne Blick für größere Zusammenhänge.

Wie also bietet dir die Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte einen Schutz vor Stagnation? Sie schafft das, indem sie deine Verbindung zu früheren Generationen stärkt, neue Perspektiven eröffnet und die Möglichkeit eröffnet, bewusst zu entscheiden, welche Familiengeschichten fortgeführt und welche transformiert werden sollen.

Du bist jetzt in ein einer Phase deines Lebens, in der die Verbindungen zu den Frauen, die vor dir da waren, stärker spürbar werden. Nach Jahrzehnten des Funktionierens – für Familie, Beruf, Gesellschaft – erwacht das Bedürfnis, deinen eigenen Platz in der Generationenkette zu verstehen. Wer bist du jenseits aller Rollen? Was ist dein Erbe? Was gibst du weiter?

Vier Generationen - Versöhnung

Wie du anfangen kannst, dich zu erinnern

Lass uns optimistisch sein: Es ist nie zu spät, sich mit seiner eigenen Herkunft zu versöhnen. Und es braucht keinen perfekten Stammbaum oder lückenlose Dokumentation.

Der Prozess der Erinnerungsarbeit beginnt mit Aufmerksamkeit und Fragen:

  • Welche Redensarten aus deiner Familie benutzt du noch heute?
  • Welche unausgesprochenen Regeln galten in deiner Familie für Frauen?
  • Vor welchen Gefühlen hatte deine Mutter und/oder deine Großmutter Angst?
  • Welche Eigenschaften werden in deiner Familie besonders gelobt?
  • Was tat deine Großmutter, wenn sie Kraft brauchte?

Manchmal reicht ein altes Foto, um ins Gespräch zu kommen. Eine biografische Fragestunde mit älteren Verwandten. Ein scheinbar beiläufiges Gespräch beim Familienfest. Ein Brief auf dem Dachboden. Das alles kann zum Ursprung einer Erkenntnis werden.

Besonders wertvoll ist der Austausch mit anderen Frauen. In Gesprächskreisen, in Workshops für biographisches Schreiben, in bewusst gestalteten Begegnungen zwischen den Generationen entsteht oft eine heilsame Dynamik. „Ja, so habe ich das auch erlebt. Danke dass du Worte dafür findest!“ Mich rührte ein Bild an, das eine Frau in einem meiner Kurs prägte: „Kindheit auf Zehenspitzen“. Genau das war es gewesen – und offensichtlich eben nicht nur bei mir. Das Persönliche wird als Teil des größeren Ganzen erkennbar, deine narrative Identität beginnt sich zu formen.

Eine Teilnehmerin meines Biografiekreises erzählte: „Ich hielt meine Großmutter für schwach, weil sie ihren Mann nie verließ, trotz seiner Affären. Doch als ich ihre Geschichte im Kontext ihrer Zeit betrachtete, erkannte ich ihre verborgene Stärke. Sie hielt eine Familie zusammen, die sonst auseinandergebrochen wäre. Und plötzlich sehe ich meine eigene Kompromissbereitschaft in einem anderen Licht.“

Eine sanfte Einladung, hinzuschauen

Die Beschäftigung mit deiner weiblichen Abstammungslinie ist kein akademisches Hobby. Sie ist ein Weg zu mehr Selbsterkenntnis, zu Mitgefühl mit dir selbst, mit der eigenen Mutter und deinen Vorfahrinnen, zu bewussten Entscheidungen darüber, welche Muster du weitertragen möchtest und welche nicht.

Erlaube dir, deine eigene Geschichte in den Mittelpunkt zu stellen – nicht aus Egoismus, sondern aus dem Wunsch heraus, authentisch zu leben und dein Potenzial zu entfalten.

Wenn du herausfinden willst, wie gut du schon mit deiner Herkunftsgeschichte verbunden bist – es gibt ein Tool, das dir erste Impulse gibt. Es heißt Rad der Familiengeschichte – und zeigt dir auf einfache, intuitive Weise, wo du stehst. Es ist ein erster Schritt, um zu erkennen, welche Schätze in der Beschäftigung mit deinen Ahnen verborgen sein können. Ein zweiter Schritt könnte dann die Beschäftigung mit deinem Genogramm sein. Doch eins nach dem Anderen. Mach es in deinem Tempo!

Das Familien-Rad lädt dich ein, die Verbindung zu deinen emotionalen Wurzeln spielerisch zu erkunden. Es zeigt dir, welche Bereiche deiner Familiengeschichte bereits gut integriert sind und wo noch unentdeckte Potenziale schlummern. Übrigens bezieht es sich sowohl auf die weibliche als auch auf die männliche Ahnenlinie – ganz gleichwertig. Mit diesem Wissen kannst du selbst entscheiden, welche nächsten Schritte für dich stimmig sind.

Denn letztlich geht es nicht darum, alles zu wissen oder alles zu verstehen. Es geht darum, die Lücken zu füllen, die dich daran hindern, ganz du selbst zu sein. Und vielleicht zu erkennen, dass du – gerade in der zweiten Lebenshälfte – die Chance hast, nicht nur Erbin, sondern auch Gestalterin deiner Geschichte zu sein, deine eigene weibliche Biografie neu zu schreiben.

Ich wünsche dir von Herzen viel Erfolg dabei.

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