Bei meinen alljährlichen Besuchen im Kloster Münsterschwarzach begehe ich immer wieder das Steinlabyrinth, das Gernot Candolini vor vielen Jahren mit einer Schülergruppe angelegt hat. Es ist ein bisschen in Vergessenheit geraten und erinnert mit seinen rauen Steinen und den kargen (Un-)Kräutern an die Mühen des Lebens. Wie anders begrüßte mich letztens das „Lebendige Labyrinth“ im Kloster Helfta. Stelle dir an dieser Stelle ein duftender Kräuterlabyrinth vor dir – lebendige Hecken aus Lavendel und Rosmarin, die sich mit den Jahreszeiten wandeln, mal üppig grün, mal zurückgeschnitten, doch immer wachsend und heilend.

Labyrinthe sich für mich eine sehr treffende Metapher für die verschlungenen Wege der Lebensgeschichte – mal steinhart und unveränderlich wie alte Mauern, mal weich und wandelbar wie wachsende Pflanzen. Voller Wendungen, Umwege und Momente, in denen ich den Überblick verloren habe. Am Ende bergen beide Labyrinthe eine tiefe Weisheit, die dich auf deinem Weg der biografischen Selbsterforschung begleiten kann.

Was ist das Labyrinth-Prinzip?

Am Anfang eine Klarstellung, weil diese beiden Begriffe häufig synonym verwendet werden: Ein Labyrinth ist kein Irrgarten! Während ein Irrgarten dich verwirren will, mit Sackgassen und falschen Wegen, hat ein Labyrinth nur einen einzigen Pfad. Du kannst dich nicht verlaufen. Du kannst nur gehen. Irrgärten gibt es übrigens erst seit dem 16. Jahrhundert.

Ein Labyrinth ist mehr als nur ein Weg – es ist ein uraltes Symbol für Ganzheit. Es vereint die kraftvolle Sprache des Kreises und die Bewegung der Spirale. Vielleicht kennst du das kretische Labyrinth von Knossos. Mit seinen sieben Kreisen trägt eine tiefe symbolische Bedeutung in sich: Die sieben Umgänge entsprechen den sieben heiligen Planeten (Sonnen, Mond, Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn), den sieben hermetischen Gesetzen des Universums und den sieben Tagen der Schöpfung. Jeder Kreis repräsentiert eine andere Bewusstseinsebene, durch die du dich spiralförmig zu deinem Zentrum bewegst.

Ariadne gab Theseus den rettenden roten Faden mit ins Labyrinth – nicht um den Weg zu verkürzen, sondern um den Rückweg zu ermöglichen. Beim biografischen Schreiben ist dein Ariadne-Faden dein Vertrauen in den Prozess selbst. Er führt dich nicht um das Labyrinth herum, sondern hindurch – durch alle Windungen und Wendungen, die zu deiner persönlichen Wahrheit gehören.

Dieses Prinzip spiegelt die Natur unserer biografischen Arbeit wider: Deine Lebensgeschichte ist nicht das Vor und Zurück in einem Irrgarten, sondern bewegt sich auf ein Ziel hin – auch wenn der Weg in Schleifen und Spiralen verläuft. Wie die sieben Kreise des kretischen Labyrinths durchschreitest du verschiedene Bewusstseinsebenen deiner Erinnerungen. Und so gehört jede Wendung und jeder scheinbare Umweg zu deinem einzigartigen Pfad der Erkenntnis.

Beim biografischen Schreiben hast du es vermutlich selbst schon erlebt: Erinnerungen tauchen nicht „nach Plan“ auf. Vielleicht schreibst du über deine Schulzeit und plötzlich ist da eine andere Szene aus der Kindheit, die scheinbar nichts damit zu tun hat. Oder du beginnst mit einem fröhlichen Urlaubserlebnis und findest dich mitten in einer längst vergessenen Trauer wieder.

Das Labyrinth-Prinzip hat eine Botschaft für dich: Vertraue diesem Prozess. Dein inneres Wissen führt dich genau dorthin, wo Heilung und Erkenntnis auf dich warten.

Steinlabyrinth Münsterschwarzach

Die drei Phasen im Labyrinth – Dein Resonanzraum der Verwandlung

Jede Labyrinthbegehung folgt einem natürlichen Rhythmus, der auch deine biografische Schreibreise prägt:

1. Die Erlaubnis – Losgehen und Loslassen

Du betrittst das Labyrinth. Der erste Schritt erscheint schwer – nicht weil der Weg schwierig wäre, sondern weil du noch nicht genau weißt, was dich am Ziel erwarten wird. Okay, kein Minotaurus. Wir kämpfen heute gegen ganz andere Ungeheuer – und ein großer Teil von ihnen sitzt in deinem Inneren. Da ist also zunächst vielleicht Zögern, ein leichtes Unbehagen: „Bin ich bereit für das, was kommen mag?“ Oder auch Ungeduld: „Ich will endlich Klarheit!“ Manchmal auch Erleichterung: „Endlich darf ich einfach gehen, ohne zu wissen wohin.“

Du musst nichts wissen, nichts leisten, nirgendwo schnell ankommen. Schreibe dir einen Erlaubniszettel: Dieser Weg darf sich wie das tiefe Durchatmen nach langer Anspannung anfühlen.  

Beim biografischen Schreiben ist das der Moment, in dem du dir erlaubst, einfach zu beginnen. Ohne perfekte Struktur, ohne zu wissen, wo die Reise hinführt. Vielleicht spürst du gerade eine Mischung aus Neugier und Unsicherheit – die Vorfreude auf das Entdecken und gleichzeitig die Sorge, was da alles hochkommen könnte. Indem du die „normale Welt“ draußen lässt, schaffst du dir einen Freiraum für tief verborgene Erinnerungen und erlebst dabei oft Überraschung: „Warum denke ich gerade jetzt an das Muster der Tapete im Kinderzimmer, an den Geruch von Omas Küche, an das Gefühl von Sand zwischen den Zehen an jenem einen Sommertag?“

Und auch das andere darf sein: Das ärgerliche Gefühl, dass du dich dem Ziel schon so nah fühltest – und nun doch noch einmal eine Schleife drehst. Erinnere dich an die sieben Umgänge des kretischen Labyrinths. Auch wenn es sich bei Begehen des Labyrinths oder im biografischen Arbeiten so anfühlt, als stündest du wieder am Anfang, gehst du doch auf einer neuen (Bewusstseins-)Ebene.

Diese vermeintlichen Wiederholungen sind die Eintrittstore zu tieferen Schichten deiner Geschichte. Du tauchst tiefer und tiefer ein in deine innere Welt, unabhängig davon ob harte Steine oder duftende Kräuter deinen Weg begleiten.

2. Die Erkenntnis – Die Mitte erreichen

In der Mitte des Labyrinths wartet ein Moment der Wahrheit, eine neue Sichtweise auf das, was war. Hier kann dich tiefe Klarheit treffen – manchmal sanft wie Morgenlicht, manchmal kraftvoll wie ein Gewitterregen. Du spürst vielleicht ein tiefes „Ach so!“ oder ein erschütterndes „Ach ja…“.

Nimm dir genügend Zeit für das Kaleidoskop der Emotionen, die sich an dieser Stelle zeigen: Trauer über das, was nicht sein durfte. Wut über das, was dir angetan wurde. Auch überraschende Zärtlichkeit für die Menschen deiner Geschichte – einschließlich dir selbst. Manchmal kommt auch Scham hoch: „Wie konnte ich das so lange übersehen?“ Oder Stolz: „Wie stark war ich damals, auch wenn ich es nicht wusste!“

Beim Schreiben entstehen hier die biografischen Wendepunkte: Plötzlich erkennst du den roten Faden, der sich durch scheinbar unzusammenhängende Ereignisse zieht. Diese Erkenntnis kann sich wie ein warmes Pulsieren in der Brust anfühlen – das Gefühl, endlich nach Hause zu kommen zu dir selbst. Du verstehst, warum bestimmte Muster sich in deinem Leben wiederholt haben, und spürst dabei vielleicht eine Mischung aus Wehmut und Befreiung.

Oder du spürst zum ersten Mal Mitgefühl für die jüngere Version deiner selbst, die damals ihr Bestes gegeben hat mit den Mitteln, die ihr zur Verfügung standen. Dieses Gefühl kann so überwältigend sein, dass Tränen fließen – nicht aus Schmerz, sondern aus Erleichterung. Diese Aha-Momente sind Geschenke der Versöhnung – mit dir selbst, mit deinen Entscheidungen, manchmal auch mit Menschen, die Teil deiner Geschichte sind. 

Apropos roter Faden: Am Himmelfahrtstag im Helftaer Labyrinth begriff ich zum ersten Mal, weshalb Ariadne ihrem Geliebten Theseus diesen Faden mitgegeben hatte. Verlaufen konnte er sich ja offensichtlich nicht im Labyrinth!

Das Herz des „Lebendigen Labyrinths“ ist ein zeltartiger Raum aus Buchenhecken mit einer hölzernen Rundbank. Dieser ruhige Platz inmitten des satten Grüns mit wohligen Düften, dem Summen der Insekten und dem fernen Ruf eines Kuckucks war so einladend. Ich spürte eine tiefe Ruhe, die nicht Gleichgültigkeit ist, sondern Frieden. Ich hätte wirklich ewig bleiben wollen. Und vielleicht ging es Theseus nach seinem Sieg über das Ungeheuer ganz ähnlich. Hätte er den roten Faden nicht gehabt, der ihn an seine Ariadne erinnert, hätte er sich möglicherweise ewig auf seinen Lorbeeren ausgeruht. 

Der Faden also ist nicht dazu da, dass du den Rückweg findest – sondern dass du ihn gehst!

Schutzhütte im Zentrum des Helftaer Labyrinths

3. Die Entwicklung – Der Rückweg

Es ist der gleiche Weg, den du gekommen bist – aber du bist nicht mehr dieselbe Person. Es kann sein, da ist zunächst eine seltsame Leere, fast wie nach einem intensiven Traum, aus dem du erwachst. Die Erkenntnisse der Mitte sind noch da, aber sie brauchen noch Zeit, um sich zu setzen.

Schritt für Schritt, während du dem Pfad zurück folgst, breitet sich ein neues Gefühl aus: Zuversicht. Die Erinnerungen, denen du begegnet bist, haben ihren Schrecken verloren und sind zu einem Teil deiner Geschichte geworden – nicht mehr, nicht weniger. Dann kommt auch Dankbarkeit auf – für den Mut, den Weg gegangen zu sein. Für die Tränen, die geweint werden durften. Für die Wahrheiten, die sich zeigen durften. Und immer wieder das Staunen: „So war das also. So bin ich geworden, wer ich bin.“

Biografische Schreibprozesse wirken genauso: Sie können neue Entscheidungen anstoßen, Beziehungen heilen, Lebenswege korrigieren. Die Vergangenheit kannst du nicht ändern, doch deine Beziehung zu ihr hat sich verändert. Du spürst eine neue Kraft in dir – nicht die angestrengte Kraft des Kämpfens, sondern die fließende Kraft des Für-Sich-Einstehens.

Beim Weg zurück kam mir schon so manches Mal der Gedanke: „Was mache ich jetzt mit all dem, was ich verstanden habe?“ Aber diese Unsicherheit fühlt sich anders an. Als hätte ich einen schweren Rucksack abgelegt, ohne es zu bemerken. Es ist eine offene Frage. Ich lasse mir Zeit mit der Antwort – vielleicht ein bisschen so, wie Rilke das meinte, als er davon schrieb, dass man in die Antwort hineinleben könne.

Was das Labyrinth-Prinzip verändert

Das Labyrinth-Prinzip befreit dich von dem Druck, einen „Fahrplan“ für deine biografische Arbeit haben zu müssen. Du musst nicht chronologisch vorgehen, nicht systematisch alle Lebensphasen abarbeiten. Stattdessen entwickelst du Vertrauen in deinen eigenen Prozess.

Jeder Umweg wird zu einem wesentlichen Teil deines Weges. Die Erinnerung, die „eigentlich nicht hierher gehört“, die Emotion, die „übertrieben“ erscheint, der Traum, der sich beim Schreiben einmischt – all das trägt zur Vollständigkeit deiner Geschichte bei.

Es gibt kein Richtig oder Falsch in diesem Prozess, nur Bewegung, Resonanz und Wandlung. Das Labyrinth lehrt uns Gleichmut: Wenn der Weg uns vom Zentrum wegzuführen scheint, vertrauen wir darauf, dass er uns in einer größeren Bewegung wieder dorthin bringt. Wenn wir mit unserer Verletzlichkeit in Kontakt kommen, so ist das der Schlüssel für neue Erfahrungen. 

Lebendiges Labyrinth voller Kräuter und Blumen

Einladung zur eigenen Spurensuche

Im Steinlabyrinth von Münsterschwarzach und in dem von Frauen erbaute Kräuterlabyrinth von Helfta führen beide Wege zum Zentrum – der eine durch die Härte des Steins, der andere durch die Sanftheit wachsender Pflanzen. Beide haben ihre Berechtigung, beide bergen Heilung.

Deine Lebensgeschichte ist genauso vielfältig: Manchmal führt sie über steinige Pfade, die deine Füße hart werden lassen. Manchmal wandelst du durch duftende Erinnerungen, die dein Herz öffnen. Beides gehört zu deinem einzigartigen Labyrinth der Erfahrungen.

Auch wenn du dich einmal verloren fühlst auf deinem biografischen Weg – du bist nicht falsch. Du bist unterwegs. Das Labyrinth hat nur einen Pfad, und er führt dich genau dorthin, wo deine nächste Erkenntnis auf dich wartet.

In meinen Kursen und im Mentoring begleite ich Frauen auf ihrem ganz persönlichen Labyrinthweg – Schritt für Schritt, Wendung für Wendung. Gemeinsam schaffen wir Räume der Erlaubnis, begleiten die Momente der Erkenntnis und integrieren die Geschenke der Entwicklung in dein heutiges Leben.

Denn am Ende ist jede biografische Arbeit eine Rückkehr zu dir selbst – zu der Frau, die du immer warst, und zu der, die du werden kannst.

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