Es ist ein stiller Novembermorgen. Auf dem Friedhof brennen Kerzen. Gestern war Allerheiligen, der Tag, an dem wir die Heiligen ehren, jene makellosen Vorbilder ohne Fehl und Tadel. Heute ist Allerseelen und die Katholiken gedenken der Verstorbenen, der gewöhnlichen, fehlbaren, wunderbar menschlichen Menschen.

Diese beiden Tage halten eine Spannung fest, die mir in meiner Arbeit mit Frauen und ihren Familiengeschichten immer wieder begegnet. Denn in fast jeder Familie gibt es sie: Die eine Person, über die nur Gutes gesagt werden darf.

In diesem Beitrag geht es um die „Heiligenfigur“ in der Familie. Ich zeige dir, welche Aufgabe sie übernimmt, welchen Preis diese Idealisierung hat und wie das „Und“ (sie war liebevoll und einsam) zum Schlüssel wird: für Mitgefühl, Versöhnung und inneren Frieden. Mit drei praktischen Schreibübungen.

Was Familien-Idealisierung ist und warum sie entsteht

Vielleicht kennst du sie auch. Die verstorbene Großmutter, die „eine Heilige“ war. Den Vater, der „nie ein böses Wort gesagt hat“. Die Tante, die „sich immer für alle aufgeopfert hat“.

Wenn ihr Name in der Familie fällt, senkt sich eine ehrfürchtige Stille über die Runde. Niemand wagt es, auch nur eine kleine Schwäche zu erwähnen. Die Person scheint aus einer anderen Welt zu stammen, makellos, ohne Schatten und ohne die Widersprüche, die uns alle als Menschen ausmachen.

In meiner Arbeit mit dem Genogramm und biografischem Schreiben begegne ich diesen Heiligenfiguren regelmäßig. Frauen erzählen mir von der „perfekten“ Mutter, der „aufopferungsvollen“ Großmutter, dem „nie zornigen“ Vater. Und ich höre in ihren Worten nicht nur Liebe und Dankbarkeit, sondern auch eine leise Anspannung. Als würden sie ihre Familie verraten, wenn sie auch nur eine der Fragen stellen würden.

„War sie wirklich immer so glücklich?“
„Hat er nie etwas für sich selbst gewollt?“
„Durfte sie auch mal schwach sein?“

Warum erschaffen Familien Heiligenfiguren?

Die Idealisierung einer Person geschieht nicht zufällig. Sie erfüllt oft unbewusste Funktionen im Familiensystem:

  • Sie schützt vor schmerzhaften Wahrheiten, die das System erschüttern würden
  • Sie stabilisiert ein fragiles Gleichgewicht nach einem Verlust oder Trauma
  • Sie löst Loyalitätskonflikte – wenn alle die Person verehren, muss niemand Position beziehen
  • Sie hilft, mit Trauer umzugehen, indem sie das Unerträgliche verklärt

Die langen Schatten des Krieges:

In Familien, die im Zweiten Weltkrieg Bombenterror, Flucht oder Vertreibung durchlebt haben, wird oft eine Person zum Helden oder zur stillen Heldin. „Er hat uns alle durchgebracht“, heißt es dann ehrfürchtig. „Sie hat nie geklagt. Sie war unglaublich stark.“

Doch höre genau hin, was in diesen Sätzen nicht gesagt wird: Die Todesangst in den Bombennächten. Der Verlust der Heimat. Die Demütigungen auf der Flucht. Die stumme Trauer um die Toten. All das wird mit der Heiligsprechung der Person eingefroren. Die Idealisierung wird zum Schutzschild gegen das Unaussprechliche. Sie stabilisiert. Sie tröstet. Und sie überträgt das ungelöste Trauma auf die nächste Generation. Doch dieser Schutz hat eine Schattenseite.

Der Preis der Heiligsprechung

Die idealisierte Person selbst verschwindet hinter einer Maske der Perfektion. Sie wird zur Ikone. Das Wissen um innere Kämpfe, um verborgene Talente und um geheime Wünsche geht verloren.  

Für andere Familienmitglieder entsteht ein unerreichbarer Maßstab. Das „Nie-gut-genug“-Gefühl nistet sich ein. Manche kompensieren die verdrängten Schattenseiten – sie werden die „schwierigen“, die „egoistischen“, die „launischen“, damit die Heilige rein bleiben kann.

An die nächsten Generationen werden ungelöste Themen weitergereicht wie ein unsichtbares Erbe. Die Tabus, die um die Heiligenfigur gewoben wurden, werden zur Überforderung und blockieren die eigene Entwicklung. Die Enkelinnen tragen die Last einer Stärke, die vielleicht gar keine freie Wahl war, sondern pure Überlebensstrategie.

Für den Trauerprozess, der eigentlich dran wäre, bedeutet die Heiligsprechung eine Erstarrung. Echte Trauer braucht Raum für alle Gefühle – auch für Wut, Enttäuschung, Ambivalenz. Doch wenn nur Verehrung erlaubt ist, können wir nicht wirklich Abschied nehmen. Wir bleiben in einer künstlichen Beziehung zu einem künstlichen Bild gefangen.

Und für dich selbst entsteht eine heimliche Versuchung: selbst zur Heiligen zu werden. Willkommen Perfektionismus! Bühne frei für People Pleasing und Impostersyndrom!  Doch dieser Versuch, selbst zur Heiligen zu werden, kostet dich unendlich viel Kraft. Die Energie, die du brauchst, um niemanden zu enttäuschen – diese Energie fehlt dir zum authentischen, ganzen Leben.

Und noch etwas geht verloren: echte Verbindung.

Wenn wir nur unsere Lichtseite zeigen, können andere uns nicht wirklich erreichen. Sie begegnen einer Fassade, nicht einem Menschen. Echte, ehrliche Verbindung entsteht nicht zwischen Idealen. Sie entsteht zwischen Menschen, die sich mit ihrer ganzen Wahrheit begegnen dürfen. Mit Licht und Schatten. Mit Stärke und Verletzlichkeit.

Schön war die Jugend, sie kommt nicht mehr

Meine eigene Geschichte: Die geliebte Großmutter

Meine Großmutter? Ich habe sie geliebt. Sie war immer für mich da. Als Schneiderin zauberte sie kleine Wunder, jeder Wunsch wurde erfüllt, jedes Kleid nach meinen Ideen genäht. Sie dachte sich Spiele aus und wurde nicht müde, wieder und wieder mit uns Kindern zu spielen. Und selbst im hohen Alter, als ihre Augen schlechter geworden waren, nähte sie noch Püppchen für ihre Urenkel. Wenn ich an sie denke, finde ich keine einzige schlechte Eigenschaft. Null. Nichts.

Mein Bruder sah das anders. Für ihn war sie – langweilig.

Das hat mich damals irritiert. Heute sehe ich: Wir haben unterschiedliche Seiten von ihr erlebt. Und ich frage mich: Was ist mit ihren Träumen passiert? Sie heiratete einen Witwer mit drei pubertären Töchtern. Von einem Tag auf den anderen wurde sie Stiefmutter, Haushälterin, Vermittlerin. Wo blieb da Raum für ihre Lebendigkeit, ihre eigenen Wünsche?

Diese liebe, stille, dienende Frau war vielleicht die einzige Version, für die es Platz gab? In ihren alten Fotos befindet sich ein Bild, das zeigt eine gesellige Veranstaltung, meine Großmutter inmitten einer Schar lustiger Schneider-Gesellen. Auf die Rückseite schrieb sie mit Bleistift zwei Zeilen aus einem alten Volkslied: „Schön war die Jugend. Sie kommt nicht mehr.“

Heute sehe ich nicht nur die liebe Omi, die mich verwöhnt hat. Ich sehe die Frau dahinter, die so viel mehr sein wollte, als ihr Leben zuließ.  

Sie war kreativ und durfte ihre Kreativität nur im Dienst an anderen leben.
Sie war gütig und hatte keine Stimme mehr für ihre eigenen Bedürfnisse.
Sie war immer für uns da und trug eine große, ungestillte Sehnsucht in ihrem Herzen.

Das „Und“ verändert alles.  

Der Unterschied zwischen Idealisierung und Würdigung

Idealisierung macht unfrei. Sie erschafft ein Bild aus purem Licht – und gerade deshalb wirft sie einen umso dunkleren Schatten. Sie trennt uns von der echten Person und von uns selbst.

Würdigung hingegen sieht beides: Licht und Schatten. Sie erkennt, dass da, wo viel Licht ist, auch ein Schatten fällt – und dass dieser Schatten keine Bedrohung ist, sondern zur Ganzheit gehört. Zum Leben aus ganzem Herzen.

Wenn es in deiner Familie auch eine Heilige oder einen Heiligen gibt, lade ich dich ein, genauer hinzusehen:

  • Was hat diese Person zurückhalten müssen, um so sein zu können, wie wir sie erlebt haben?
  • Welche Träume sind unerfüllt geblieben?
  • Welchen Preis hat ihre Güte, ihre Stärke, ihre Geduld gekostet?
  • Mit wem hatte sie vielleicht ein anderes Gesicht als mit uns?

Der Schatten macht das Licht nicht kleiner. Er macht es wahr.

Ambivalenz zulassen: Wie das „Und“ heilend wirkt

Warum Licht und Schatten zusammengehören

Es ist ein Akt tiefer Freundlichkeit, wenn wir Menschen in ihrer vollen Komplexität sehen. Wenn wir verstehen: Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. Und dieser Schatten muss uns keine Angst machen. Er gehört zu einem Leben aus ganzem Herzen dazu.

Sie war großzügig und manchmal überfordert.
Er war liebevoll und konnte seine Wut nicht zeigen.
Sie war stark und einsam.

Das „Und“ ist der Schlüssel zur Versöhnung.

Biografisches Schreiben öffnet einen Raum, in dem die ganze Wahrheit atmen darf: Licht und Schatten, Freude und Schmerz, Stärke und Verletzlichkeit. 

Drei Schreibübungen für ein vollständigeres Bild

Wenn du bereit bist, die Heiligenfigur in deiner Familie mit neuen Augen zu sehen, lade ich dich zu folgenden Schreibübungen ein:

Übung 1: Das Porträt in zwei Schritten

Nimm dir ein leeres Blatt und schreibe zunächst alles auf, was über diese Person in deiner Familie gesagt wird. All die strahlenden Eigenschaften, die makellosen Erinnerungen, die verehrungsvollen Worte.

Dann beginne einen neuen Absatz mit: „Und vielleicht war sie/er auch…“

Lass diesen Satz zu Ende kommen, ohne zu zensieren. Was taucht auf, wenn du diesem „Und“ Raum gibst? Welche leisen Ahnungen, welche verschwiegenen Geschichten, welche Fragen, die du nie stellen durftest?

Übung 2: Brief an die Heiligenfigur

Schreibe einen Brief an diese Person. Beginne mit Dankbarkeit: „Liebe(r) …, ich bin dir so dankbar für…“ Liste alles auf, wofür du wirklich dankbar bist.

Dann wage dich weiter: „Und heute möchte ich dich auch fragen: Was hat dir gefehlt in deinem Leben? Was war schwer für dich? Was konntest du dir nicht erlauben? Was hast du für uns aufgegeben?“

Lass dich von der Kraft der Fragen überraschen – auch dann, wenn du die Antworten nicht kennst.

Übung 3: Die Zeitreise

Recherchiere die Zeit, in der diese Person gelebt hat. Welche geschichtlichen Ereignisse haben ihr Leben geprägt? Welche Rollenerwartungen gab es für Frauen oder Männer in dieser Zeit? Was war erlaubt, was war tabu?

Schreibe dann: „Wenn ich in ihre/seine Zeit geboren worden wäre, hätte ich vielleicht auch…“

Was verstehst du anders, wenn du die Person in ihrem historischen und sozialen Kontext siehst?

Die Idealisierung beenden

Was das ganze Bild für dich bedeutet

Die vollständige Geschichte anzuerkennen, heißt nicht, alles gutzuheißen. Doch wenn du erkennst, dass auch die „Heilige“ fehlbar war, kann ein unbewusster Druck von dir abfallen. Du musst nicht mehr perfekt sein. Du darfst Grenzen haben und setzen. Du darfst erschöpft sein. All das ist menschlich.

Ein ganzes Leben braucht beides: Licht und Schatten. Stärke und Verletzlichkeit. Allerheiligen und Allerseelen gehören zusammen – das Strahlende und das Menschliche. Beide haben ihren Platz. Du kannst lernen, in deiner Familie beides zu ehren: Die Gaben, die dir geschenkt wurden, und den Preis, der dafür bezahlt wurde. Die Liebe, die du empfangen hast, und die Träume, die dafür geopfert werden mussten.

Und wenn du diese ganze Wahrheit für dich annimmst, gibst du sie auch weiter – an deine Kinder, an die nächste Generation. Du gibst ihnen die Erlaubnis, fehlbar und trotzdem liebenswert zu sein. Einfach Mensch zu sein.

Das ist Freiheit. Das ist der Weg zum inneren Frieden.

Möchtest du deine Familiengeschichte mit neuen Augen sehen? Ich begleite Frauen in der zweiten Lebenshälfte dabei, ihre Herkunftsgeschichte zu erforschen und mit ihr Frieden zu schließen – durch biografisches Schreiben, Genogramm-Arbeit und tiefes Verstehen der Generationsmuster.

Wenn du spürst, dass es Zeit ist, die ganze Geschichte anzuschauen, melde dich gerne für ein unverbindliches, kostenfreies Gespräch.

FAQ – Fragen und Antworten

Was bedeutet Idealisierung in der Familie?

Die Reduktion einer Person auf positive Eigenschaften, wodurch Ambivalenz und Konflikte ausgeblendet werden. Idealisierung stabilisiert kurzfristig das Familiensystem und blockiert langfristig Verarbeitung und Differenzierung.

Woran erkennst du, dass idealisiert eine Person wird?

Ein Tabu, nur Gutes zu sagen; erstarrte Formeln; Schuldgefühle bei kritischen Fragen; das Gefühl, gegen die Familie zu verstoßen, wenn Ambivalenz benannt wird.

Wie hilft ein Genogramm bei der Auflösung einer Idealisierung?

Ein Genogramm macht Muster, Loyalitätskonflikte und Kontext sichtbar: Wer trug welche Last wofür, in welcher Zeit. Dadurch werden Regeln verhandelbar.