Wenn sich mein Bruder mit mir über Kindheitserinnerungen austauscht, könnte ein Außenstehender zuweilen meinen, wir wären in komplett verschiedenen Familien aufgewachsen.

Meinen Großvater, der ein wirklich alter, rückständiger, starrsinniger und darüber hinaus stockschwerhöriger Mann war (okay, ich dramatisiere hier etwas), beschreibt mein Bruder als „einfach nur cool“. Also das war er ganz sicher nicht. Und auch wenn es um die Feten in unserer Jugend geht, unterscheiden sich die Wahrnehmungen meines Bruders gravierend von meinen.

Natürlich habe ich Recht, denn ich erinnere mich doch ganz genau. Gleiches behauptet mein Bruder von sich.

Hier geht es nicht um eine andere Bewertung im Sinne eines Reframings – wir erinnern einfach ganz verschiedene Fakten, legen Ereignisse in andere Zeiträume („das kann doch gar nicht sein, da haben wir doch schon im Wiesenweg gewohnt …“ usw.) oder fügen Personen zu unserer Erinnerung hinzu, die nachweislich nicht dabei gewesen sein können.

Warum ist das so? Ich versuche schon lange, dem Phänomen der falschen Erinnerungen auf die Spur zu kommen. Das habe ich gefunden:

Die Natur unserer Erinnerungen: Zwischen Fakt und Fiktion

 

Was sind falsche Erinnerungen?

Das Thema Fake-News ist derzeit in aller Munde – doch gerade darum geht es hier erst mal nicht.  Falsche Erinnerungen sind weder Lügen noch absichtlich veränderte Erzählungen. Dass Lügen dennoch zu Verzerrungen beitragen können, siehst später, wenn es um Suggestion geht.

Falsche Erinnerungen werden von Menschen subjektiv als wahr empfunden. Dabei haben die Ereignisse oder Erfahrungen in Wirklichkeit nicht so stattgefunden. Aber die Person glaubt, sich korrekt zu erinnern. Solche falschen Rückblicke können verschiedene Formen annehmen: von leichten Verzerrungen realer Ereignisse bis hin zu völlig erfundenen Erlebnissen.

Meist sind sie relativ harmlos. Beispielsweise erinnere ich mich, dass es in dem Bäckerhaus, in dem wir bis zu meinem sechsten Lebensjahr wohnten, im Keller ein Badezimmer für alle Hausbewohner gab. In meiner Geschichte befand sich darin eine Badewanne, die so lang war, dass unsere ganze Familie, Mutter, Vater, mein Bruder und ich gleichzeitig bequem darin sitzen konnten.

Mein Verstand sagt mir, dass das ziemlich unwahrscheinlich ist. Gleichzeitig kann ich deutliche Bilder von diesen Badetagen abrufen. Vermutlich spielt mir hier die Erinnerung einen kleinen Streich. Wie auch immer – solche Fehl-Erinnerungen tun niemandem weh.

Zu den häufigsten Fehlern beim Erinnern gehören

  • Quellenamnesie: Menschen verwechseln den Ursprung einer Information
  • Falsche Zuordnungen: dabei werden oft verschiedene Erlebnisse vermischt
  • Verfälschte Zeitwahrnehmung: was war früher, was war später, in welcher Reihenfolge passierten die Ereignisse? Unter Geschwistern auch gerne: Wer hat angefangen? 🙂

Falsche Erinnerungen sind ein normales Phänomen. Das Gedächtnis hat die Informationen eben nicht wie eine Kamera abgespeichert, auch wenn es dir vielleicht manchmal so vorkommt. Stattdessen rekonstruiert es die Erlebnisse bei jedem Abruf neu. Dabei können Situationen vermischt, Details verändert, hinzugefügt oder ausgelassen werden. Und so wird eine Geschichte – wie beim Spiel „stille Post“- im Laufe der Jahre immer weiter verändert.

Falsche Erinnerungen Badewanne

Wie entstehen falsche Erinnerungen?

Wir Menschen wollen uns auf unser Gedächtnis verlassen können und sind in der Regel von der Richtigkeit unserer Erinnerungen überzeugt. Dabei ist das Gedächtnis nicht erst bei Demenz anfällig für Fehler. Denn leider ist es ein Irrtum zu glauben, dass unser Gedächtnis wie ein Computer funktioniert und alles an der richtigen Stelle katalogisiert ist. Es läuft anders.

Dazu sagt die Forschung: Die Speicherung und Verarbeitung von Geschehnissen ist ein komplexer und dynamischer Prozess. Wenn du eine Erfahrung machst, werden Informationen durch verschiedene Bereiche deines Gehirns verarbeitet und miteinander verknüpft, vor allem durch den Hippocampus und den präfrontalen Cortex. (Das ist der Stirnbereich deines Kopfes.) Diese Information wird dann in einem Netzwerk von Neuronen gespeichert, wobei sensorische Eindrücke, Emotionen und Kontext miteinander verbunden werden. Na, ob das gutgeht?

Rekonstruktion ist der Prozess, bei dem dein Kopf beim Abrufen einer Erinnerung nicht etwa eine „Aufnahme“ abspielt, sondern stattdessen die Geschichte aktiv auf Grundlage des aktuellen Wissenstands rekonstruiert. Das bedeutet, jedes Mal, wenn du dich an etwas erinnerst, stellt dein Gehirn eine neue Aufzeichnung anhand vorhandener Informationen zusammen. Im besten Falle ist die dann auch richtig. Doch neuere Erfahrungen und aktuelle Emotionen beeinflussen dein Bild und die Geschichte. 

Konfabulation ist ein sehr spannendes Phänomen. Konfabulationen entstehen unbewusst. Das Gehirn versucht praktisch, trotz vorhandener Gedächtnislücken eine sinnvolle Geschichte zu erschaffen. Die Betroffenen sind dabei überzeugt, dass ihre Rekonstruktionen der erinnerten Situation wahr sind. Meine Badenwannenstory könnte also eine Konfabulation sein.

Suggestion nennt man den Prozess, bei dem durch Einflüsse von außen Erinnerungen verändert oder sogar erzeugt können. Das Gedächtnis wird dabei durch Fotos, Videos und Berichte absichtlich beeinflusst. Ein klassisches Beispiel dafür ist, wenn jemand in einer Erzählung bestimmte Details einbringt, die in Wirklichkeit nicht passiert sind. Suggestive Fragen wie „Erinnerst du dich, als wir damals im roten Auto waren?“ können beispielsweise dazu führen, dass du dich an das rote Auto erinnerst. Auch wenn das rote Auto nie existierte, hat dann dein Gehirn diese Information dennoch übernommen.

Die Professorin Elisabeth Loftus, Los Angeles, führte ein interessantes Experiment durch, um zu beweisen, dass Menschen im Rückblick auf ihre Kindheit durch erfundene Fakten ihre eigene Geschichte verändern oder erweitern. 

In ihrer Studie wurde im Einverständnis mit den Probanden Kontakt zu deren Eltern aufgenommen. Was die Teilnehmer nicht wussten, war, dass Loftus aus Jugendbildern Fotomontagen herstellte, welche sie als Jugendliche in einem Heissluftballon zeigte. 30-40% der Probanden konnten sich aufgrund dieser vorgelegten Bilder an eine Ballonfahrt erinnern und davon berichten, obwohl sie nie stattgefunden hatte.

Du siehst also, wie empfindlich unser Gedächtnis auf verschiedene Einflüsse reagiert und wie leicht es zu falschen Erinnerungen kommen kann. Doch es geht noch weiter.

Die Rolle der Emotion: Wenn Gefühle die Geschichte verändern

Kommen wir mal zu den Gefühlen. Auch sie spielen eine komplexe Rolle bei der Bildung und Verfälschung von Erinnerungen.

Starke Emotionen führen zu  lebhafteren, aber nicht unbedingt genaueren Erinnerungen. In emotionalen Situationen neigt unsere Aufmerksamkeit dazu, sich auf bestimmte Aspekte zu konzentrieren, während andere vernachlässigt werden.

Neurowissenschaftler, wie Joseph LeDoux von der New York University, forschen zur Stimmungsabhängigkeit von Erinnerungen. Nach seinen Erkenntnissen hat der aktuelle Zustand des Gehirns einen Einfluss darauf, wie eine Erinnerung abgespeichert wird. Verliebte Menschen erinnern sich anders an ihre erste Begegnung, als Paare, die sich bereits wieder getrennt haben.

Bei der Rekonstruktion interpretieren wir vergangene Ereignisse dann im Licht unserer damaligen oder unserer aktuellen Gefühle. Du brauchst dir nur einen Streit vorzustellen, bei dem am Ende jede der Parteien eine andere Version der Geschichte erzählen wird.  Beide würden schwören, die Wahrheit zu sagen. Dazu kommt laut LeDoux,  dass Menschen sich leichter an Informationen erinnern, die zu ihrer aktuellen Stimmung passen. Auch das kann die Erinnerung weiter verzerren.

Extreme Stresssituationen stören die Gedächtnisbildung signifikant und erzeugen fragmentierte, für Verfälschungen anfällige Erinnerungen. Ursache dafür sind  Schutzmechanismen wie Vermeidung oder Verdrängung, die aktiviert werden. Diese Gedächtnislücken sind besonders anfällig für spätere Verfälschungen.

Emotional bedeutsame Erlebnisse werden oft lebhafter, aber nicht zwangsläufig akkurater erinnert. Kann man sich also überhaupt objektiv erinnern?

Schatten der Erinnerung

Woran wir uns erinnern: zwei Erinnerungshügel

Was bleibt von einem Leben an Erinnerungen übrig? Im Wissenschaftsmagazin Quarks habe ich die Theorie er Erinnerungshügel gefunden, die ich sehr einleuchtend finde. Und die mir im Übrigen auch in meiner Arbeit mit Menschen mit Demenz so begegnet. Aber offenbar geht es uns allen so.

Das Wissenschaftsmagazin Quarks schreibt: „Die Episode lässt sich in zwei Phasen unterteilen: von 10 bis 19 Jahre und von 20 bis 29. In der ersten Phase bildet sich besonders die soziale Identität: Hier werden vor allem öffentliche Geschehnisse abgespeichert, die politische, soziale, religiöse, kulturelle Bedeutungen haben, etwa Wahlen oder Sport-Events.
In der zweiten Phase ab 20 Jahren konzentriert sich das Gedächtnis mehr auf die persönliche Identitätsbildung: Hier stehen Verbindungen und Beziehungen zu anderen Menschen im Vordergrund und wir erinnern uns später eher an die persönlichen Erlebnisse, die wir mit anderen Menschen hatten.“
Es hat offenbar mit den vielen „ersten Malen“ zu tun, die Menschen in dieser Zeit erleben und die besonders eindrücklich sind. Der erste Tanz, der erste Kuss, später der erste Job, das erste Gehalt, die erste eigene Wohnung. Ich erinnere mich noch ganz deutlich an die wunderschönen, sündhaft teuren blauen Mokassins, die ich mir von meinem ersten Gehalt kaufte. In meiner Erinnerung standen sie im Laden in einer geschlossenen Vitrine und ich musste sie mir von der Verkäuferin herausgeben lassen. Ob es wirklich so war? Wer weiß.
Grafisch dargestellt jedenfalls ergibt dieses Erinnerungsmuster eine Lebenslinie mit zwei markanten Hochs in der Kindheit und jungen Erwachsenenalter, die den Erinnerungshügeln ihren Namen gaben.

Herausforderungen und Chancen in der Arbeit mit der eigenen Biografie

Fehlerhafte Erinnerungen spielen in der Biografiearbeit eine besondere Rolle, denn sie beeinflussen das Verständnis der eigenen Lebensgeschichte tiefgreifend und stellen den Schreibenden vor besondere Herausforderungen.

Denn je tiefer Menschen in ihre eigene Geschichte eintauchen, um so klarer möchten sie wissen „wie es wirklich war„. Im Coaching ist Raum dafür, genauer hinzusehen und zu relativieren.

Die Tragik verzerrter Erinnerungen kann dazu führen, dass Menschen Ereignisse falsch einordnen, Beziehungen anders bewerten oder sogar ganze Lebensabschnitte in einem anderen Licht sehen.

In besonders starken Verzerrungen beeinflusst das ihre Selbstwahrnehmung und führt zu Konflikten, Missverständnissen und vielleicht sogar zu Kontaktabbrüchen innerhalb von Familien. Iim Coaching gehen wir sensibel mit solchen Diskrepanzen um. Schicht für Schicht versuchen wir die Schleier zu lüften und den Möglichkeitsraum zu erweitern.

Interessanterweise können falsche Erinnerungen auch positive Funktionen erfüllen. Denn sie bieten unerwartete Chancen für persönliches Wachstum und Heilung. Dann tragen sie dazu bei, ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten oder zu stärken. Wenn Menschen sich (fälschlich) als Held*innen einer Geschichte sehen, fördert das ihre Resilienz, ihre Widerstandskraft gegen die Herausforderungen des Alltags.

Vom Gedächtnis offensichtlich „geschönte“ Erinnerungen nehmen wir in der Biografiearbeit als Ausgangspunkt, um tieferliegende Bedürfnisse, Wünsche oder ungelöste Konflikte zu erkennen und zu bearbeiten und der Geschichte nachträglich einen erkennbaren Sinn zu verleihen.

Du kannst also ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass die Geschichten, die du dir erzählst, möglicherweise im Laufe der Jahre auf eine bestimmte -positive oder negative – Weise eingefärbt worden sind.

Ein Klient erzählte mir von einer Postkarte, die er an seinen Kühlschrank gepinnt hatte. Darauf steht:

Könnte es vielleicht auch ganz anders sein?

Der konstruktive Umgang mit falschen Erinnerungen im biografischen Coaching

In meinem Coaching arbeite ich mit meinen Klientinnen mit systemisch-lösungsorientierten Ansätzen. Das bedeutet folgendes:

Validation der emotionalen Wahrheit:

Validation bedeutet „Gültigkeit“ oder für gültig erklären. Alle Erinnerungen sind Teil deiner Person. Auch wenn deine Erinnerung faktisch falsch sein mag, akzeptieren wir – du und ich – die damit verbundene emotionale Erfahrung, die oft real und bedeutsam ist. Wir finden den Sinn dahinter. 

Aufbau eines sicheren Rahmens, um über Erinnerungen zu sprechen:

Du bekommst ein gutes Repertoire an hilfreichen Strategien, um eventuell schmerzhafte Emotionen zu verarbeiten. Du wählst die Methoden aus, die dir am meisten entsprechen und die dir Sicherheit geben.

Förderung von Perspektivenwechsel:

Ich ermutige dich mit offenen und nicht-suggestiven Fragen, Ereignisse aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, ohne sie als „richtig“ oder „falsch“ zu kategorisieren.

Behutsame Hinterfragung:

Respektvoll und ganz vorsichtig erkunden wir Unstimmigkeiten in den Erinnerungen, ohne deine Integrität in Frage zu stellen.

Unterschiedliche Versionen der Vergangenheit verstehen und zusamnenführen:

Wir arbeiten daran, aus verschiedenen Versionen von Erinnerungen ein kohärentes Lebensbild zu erzeugen.

Stell dir vor, du blätterst durch ein altes Fotoalbum mit deiner Familie. Jeder erinnert sich vielleicht etwas anders an einen bestimmten Urlaub oder ein Familienfest. Deine Schwester erzählt, wie lustig es war, du erinnerst dich eher an Streit, und deine Eltern haben noch eine ganz andere Sichtweise. Anstatt zu streiten, wer Recht hat, geht es darum, all diese Sichtweisen als Teile eines größeren Bildes zu sehen. Jede Version hat ihre Berechtigung und zeigt, wie unterschiedlich wir Dinge erleben und in Erinnerung behalten.

Eine gute Unterstützung bieten dir tatsächlich relevante Fotos und Tagebücher. Sie dienen als Erinnerungshelfer. In meinem wöchentlichen Sonntagsletter zeige ich dir immer wieder Methoden, wie du dich von ganz verschiedenen Seiten deiner Biografie nähern kannst.

Wenn wir im Coaching an deiner Lebensgeschichte arbeiten, werden wir diese verschiedenen Geschichten zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Ich vergleiche es gern mit einen Puzzle, bei dem jedes Stück eine andere Sichtweise darstellt. Manchmal passen die Teile nicht perfekt, und das ist okay.

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Disclaimer: Zu guter Letzt dienen verdrängte, verzerrte, oft diffuse oder abgemilderte Erinnerungen auch der Bewältigung traumatischer Ereignisse. Sie helfen als Schutzmechanismus, schmerzhafte Erfahrungen zu verarbeiten, ohne von ihnen überwältigt zu werden. Solltest du vermuten, dass sich hinter einer bestimmten Erinnerung ein Trauma verbirgt, dann suche dir bitte eine Psychologin oder einen Therapeuten. Traumata gehören nicht ins Coaching. Damit wären wir beide überfordert!

Fazit

Falsche Erinnerungen sind ein faszinierendes Phänomen, das unser Verständnis von Biografie und Identität herausfordert. Sie entstehen durch komplexe Prozesse in unserem Gehirn, beeinflusst von Emotionen, sozialen Faktoren und kognitiven Verzerrungen.

In der Biografiearbeit können sie sowohl Herausforderungen als auch Chancen bieten. Der Schlüssel liegt darin, offen und reflektiert mit verschiedenen Versionen der eigenen Geschichte(n) umzugehen und die subjektive Bedeutung von Erinnerungen zu würdigen. Letztlich zeigt uns die Auseinandersetzung mit falschen Erinnerungen, wie komplex und dynamisch unsere Lebensgeschichten sind.

Mir ist es wichtig, diesen Erinnerungen mit Offenheit und Empathie zu begegnen, anstatt sie zu korrigieren oder zu bewerten. Ein achtsamer und ethisch verantwortungsvoller Umgang schafft den Raum dafür, die Lebensgeschichte eines Menschen vollständig zu würdigen und ein tieferes Verständnis für seine Identität zu fördern. Dies stärkt nicht nur das Selbstbewusstsein, sondern auch das Vertrauen in den biografischen Prozess.

Diese Erkenntnis lädt uns ein, unsere Vergangenheit – und auch unsere Mitmenschen mit ihren Geschichten mit mehr Verständnis und Mitgefühl zu betrachten.